Helmut Newton Stiftung – Hartmann-Projekte: Anna Lehmann-Brauns: Praktika

Helmut Newton Stiftung – Hartmann-Projekte: Anna Lehmann-Brauns: Praktika
Helmut Newton Stiftung – Hartmann-Projekte: Anna Lehmann-Brauns: Praktika
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Anna Lehmann-Brown „Stages“ heißt das neue Buch, herausgegeben von Progetti Hartmann und eine Ausstellung im Projektraum von Helmut Newton Stiftungbis 10. November 2024. Mattia More DuroDirektor der Newton Foundation in Berlin, schreibt in der Einleitung zum Buch:

Licht und Schatten sowie sehr sanfte und unglaublich satte Farben finden in den Fotografien von Anna Lehmann-Brauns eine harmonische Balance. In manchen Fällen sehen wir gefundene oder konstruierte Räume, melancholische und urbane Landschaften, Einblicke und Panoramen, in anderen Fällen wird die räumliche Tiefe bewusst verzerrt. Der Berliner Fotograf konzentriert sich sehr subtil auf bestimmte visuelle Details; Manchmal entstehen fast gespenstische Situationen, etwa wenn sich die Vorhänge vor einem offenen Fenster bei einem Windstoß aufblähen. Die leichte Unschärfe führt zu einer Illusion von Bewegung, und in unserem Kopf vergrößern wir das gefrorene Innere zu etwas Sequentiellem, sogar Filmischem. Viele Orte in Lehmann-Brauns’ Fotografien könnten durchaus Szenen oder Kulissen sein – und seine Fotos wirken manchmal wie Filmstills. Wir kennen solche und ähnliche Situationen aus unseren Visionen und unseren Erinnerungen, doch in den Gemälden von Lehmann-Brauns entwickelt sich erstmals eine besondere Poesie, der Zauber der Schönheit der Vergangenheit.

Angefangen hat alles mit den wunderschön eingerichteten, puppengroßen Raummodellen, die sie gegen Ende ihres Studiums an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig baute, gestaltete und fotografierte. Schon damals spielte er mit dem Konzept der Authentizität, mit Illusion und Realität. Bei näherer Betrachtung erkennt man jedoch die Modellqualitäten dieser ersten Bildserie, die er auch heute, einige Jahre später, weiterverfolgt. Bei einigen lichtdurchfluteten Innenräumen handelt es sich um Kinderzimmer, in denen Flaschen oder Möbel umgeworfen wurden, was auf einen Schreckensmoment hindeutet, der die gesamte Szene in einer Sekunde verändern könnte. Der Raum kann nicht nur in seinen Bildern von Berliner Theatern als Bühne verstanden werden, sondern auch in den leeren LGBT+-Bars von San Francisco, die Gegenstand einer weiteren seiner Serie sind. Lehmann-Brauns interessiert sich für fotografische Sequenzen im Allgemeinen. In jedem einzelnen Bild der Serie steckt eine faszinierende und assoziationsreiche Erzählung, die sich von einem Bild zum nächsten in der Serie weiterentwickelt. Es ist, als würden wir von Bar zu Bar gehen, vor oder nach der Schließung – und das entspricht der spezifischen Situation jedes Fotos.

In seinen Fotografien existieren keine Menschen, sondern nur ihre Spuren. Oder anders ausgedrückt: Wir scheinen sie zu hören. Es scheint, als hätten sie gerade den Raum oder vielleicht die Bühne verlassen. Auf den freien Plätzen auf der Fähre zu den Prinzeninseln, in den Hotellobbys, an der Bar oder am Billardtisch in den Berliner Bars ist niemand; Niemand geht zum Pool oder zum Strand. Von Zeit zu Zeit verändert die Abwesenheit unserer Kollegen die Atmosphäre in Richtung Dystopie, die augenblicklich wiederentdeckt und durch intensive, sogar optimistische Farben ausgeglichen wird.

Die Liste der fotografierten Orte entspricht unter anderem der Reihe renommierter Reisestipendien, die die Fotografin nach der Zusendung ihrer vorherigen Fotoserien erhielt: Istanbul, San Francisco, Peking, ergänzt durch Reisen nach Italien und Mexiko.

Die Orte, an denen er lebt, Berlin und Leipzig, bleiben jedoch die Orte der meisten seiner Bilder. Seine Flohmarktserie entstand in diesen Städten, größtenteils im Jahr 2020, während der Coronavirus-Pandemie, die das gesellschaftliche Leben aller nahezu lahmgelegt hat. Dies spiegelt sich in den Schaufenstern dieser Antiquitätenhändler wider, die der Fotograf durch diese Aneignung völlig neu interpretiert hat; Objekte vergangener Jahrzehnte werden so präsentiert, als wären sie völlig zeitlos.

Trotz der Staubschichten und ihrer antiquierten Ästhetik repräsentieren die Globen, Uhren, Goethe-Büsten, Porzellanfiguren, Glasaschenbecher und Stofftiere ihre früheren Besitzer. Manchmal zerstört ein geringer Preis die Illusion der Zeitlosigkeit und führt uns zurück zur Realität des kommerziellen Karussells des Kapitalismus. Der aktuelle Standort verlassener Objekte, manchmal teuer, manchmal fast wertlos, macht sie zu einer Art Überlebenskünstler, und sie brüllen, manchmal schrill und laut, ihre Existenz den Passanten zu, die in die Schaufenster schauen. Es ist eine zeitgenössische Vision einer diffusen Zeitlichkeit, die wie jedes fotografische Bild natürlich nur einen Zwischenzustand hervorhebt.

Das Gleiche gilt für Bars und Theater, von denen einige kurz nach der Aufnahme dieser Fotos verschwunden sind. Für das Kurfürstendamm-Theater, das Lehmann-Brauns 2018 kurz vor seinem Abriss dokumentierte, war im wahrsten Sinne des Wortes der letzte Vorhang gefallen. Vermutlich sind nur noch wenige Requisiten erhalten geblieben und das Ku’damm-Theater ist inzwischen in das ehemalige Schillertheater und dann an den Potsdamer Platz umgezogen. Diese temporären Nutzungen und Umbauten sind typisch für Berlin, eine Stadt im ständigen Wandel, die „immer wird und nie ist“, um Karl Scheffler aus den Goldenen Zwanzigern zu zitieren.

Was vor einem Jahrhundert galt, gilt in dieser Stadt immer noch. Die Bildserie von Anna Lehmann-Brauns dokumentiert eine konkrete Situation und symbolisiert gleichzeitig die ständigen und radikalen Veränderungen, die in einem großen städtischen System stattfinden. In diesem Sinne sind diese neue Publikation und die Präsentation im Projektraum der Helmut Newton Stiftung parallel zu „Berlin, Berlin“ im ersten Stock eine äußerst sinnvolle Ergänzung.

(Matthias Harder, dall’introduzione a “Anna Lehmann-Brauns, Stages”, Hartmann 2024)

Anna Lehmann-Braun: Tappe
Progetti Hartmann
28×32,5cm
120 Seiten, ca. 75 Abbildungen
Testi apr Barbara Esch Marowski e Matthias Harder
Design: Heimann + Schwantes, Berlino
Deutsch Englisch
ISBN 978-3-96070-112-5
40,00 € inkl. MwSt., zzgl. Versandkosten
https://www.hartmannprojects.com/

Helmut Newton Stiftung
Im Museum für Fotografie
Jebensstraße 2
10623 Berlin, Deutschland
https://helmut-newton-foundation.org/it/

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