Zum 100-jährigen Jubiläum des Surrealismus wird im Rahmen einer Ausstellung im Norden Großbritanniens ein neuer Blick auf diese Bewegung geworfen. Der feministische Aspekt wird hervorgehoben in „Das traumatische Surreale“ anhand von Werken aus der Nachkriegszeit, geschaffen von Frauen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich.
Dieser Inhalt wurde veröffentlicht am
19. Dezember 2024 – 09:20
Hundert Jahre nach der Veröffentlichung von André Bretons Manifest des Surrealismus im Jahr 1924 richten die größten Museen ihr Rampenlicht auf diese Bewegung. An der Ausstellung beteiligten sich die Tate Modern in London und das Metropolitan Museum in New York „Surrealismus jenseits der Grenzen“ (Surrealismus jenseits der Grenzen | Tate ModernExterner Link)sowie das Centre Pompidou in Paris, das bis Mitte Januar eine Retrospektive bietet (Surrealismus – Centre PompidouExterner Link).
In Leeds, im Norden Englands, greift das Henry Moore Institute den Surrealismus mutig und in einem neuen Licht auf (The Traumatic Surreal | The Henry Moore Institute).Externer Link).
Die Kuratorinnen dieser Ausstellung, Clare O’Dowd und Patricia Allmer, verzichten auf die vorherrschenden und rein männlichen Inkarnationen von Max Ernst, Salvador Dali oder René Magritte und bieten bis heute nur Werke von Künstlerinnen an, die im germanischen Kontext entstanden sind. Diese Künstler griffen diesen Trend auf, um an das Erbe des Faschismus und des Holocaust zu erinnern und so das Spektrum des Surrealismus zu erweitern.
Möchten Sie jeden Montag eine Auswahl unserer besten Artikel der Woche per E-Mail erhalten? Unser Newsletter ist für Sie gemacht.
Nach der Definition von André Breton basiert der Surrealismus „auf dem Glauben an eine höhere Realität“, die Assoziationen von Ideen und Träumen verbindet. Dadurch werden die rationalen, kartesischen und logischen Barrieren gesenkt, das Mantra der damaligen bürgerlichen Ideologie.
Die Tatsache, dass diese Bewegung traditionelle Strukturen und Hierarchien ablehnte, insbesondere Werte wie Ehe, Kinder und Familie, gepaart mit dem Wunsch, die Gesellschaft neu zu erfinden, sind alles Elemente, die diese Frauen anzogen.
Kunstwerk von Ursula (Schultze-Bluhm) mit dem Titel „The Big Pandora Box“, 1966
© Rheinisches Bildarchiv Cologne
Traumata überwinden
Betitelt „Das traumatische Surreale“bietet diese Ausstellung neben der Entdeckung bisher wenig gezeigter Werke auch eine überzeugende Expertise dieser Zeit, die sich an dem gleichnamigen Werk von Patricia Allmer zu diesem Thema orientiert.
Konzentriert sich auf das Freudsche Konzept von TraumaZiel ist es zu verstehen, wie diese Künstler die Spuren des Nationalsozialismus interpretieren konnten und welche Auswirkungen diese Ära auf junge Frauen über mehrere Generationen hinweg hatte. Der unter dem Triptychon und der Zwangsjacke aufgewachsen ist: „Kinder, Küche und Kirche“. Letztere war für Patricia Allmer ein Gegner der normativen Formen der Weiblichkeit der Zeit. Und deshalb verkörpern sie Pionierinnen des „antifaschistisch-feministischen Protests“.
„Carmen – Enfant terrible“ (2001)“ von Renate Bertlmann. Die Spitzenkanten eines Chiffon-Ballkleids, gesäumt von Reihen dreieckiger, spitzer Zähne, die alle unter einem roten Dildo aufgefächert sind.
Belvedere Wien, Foto: Johannes Stoll
«Traumatisches Surreales» umfasst die Werke von drei Generationen von Frauen. Den Anfang macht die Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim, geboren 1913. Sie ist die einzige hier, die damals eng mit der ursprünglichen Gruppe von Max Ernst und André Breton zusammengearbeitet hat.
Die 1921 geborene deutsche Künstlerin Ursula Schultze-Bluhm, besser bekannt als Ursula, war nach dem Zweiten Weltkrieg sehr produktiv. Gleiches gilt für die Schweizer Künstlerin Eva Wipf, geboren 1929 in Brasilien. Die nächste Generation wird von den Österreicherinnen Renate Bertlmann und Birgit Jürgenssen, geboren 1942 und 1943 in Wien, vertreten.
Die 3. Generation wird von Multimedia-Künstlern wie der Luxemburgerin Bady Minck und der Schweizerin Pipilotti Rist verkörpert. Beide sind noch immer aktiv und wurden 1962 geboren.
Zwei miteinander verbundene Themen liegen einem Großteil ihrer Arbeit zugrunde. Der Ärger, der durch den massiven Einsatz von Pelzen zwischen Tieren und Menschen bestehen bleibt. Und das Phänomen der Gefangenschaft, das in diesem Fall durch Käfige und Stacheldraht veranschaulicht wird.
Eva Wipf (wieder)entdeckt
Die in ihrem Leben als Künstlerin wenig gefeierte Schweizerin Eva Wipf ist eine der großen Entdeckungen dieser Ausstellung in Leeds. Seine Kreationen reichen von Tafelmalerei bis hin zu avantgardistischen Objektassemblagen.
„Es gibt so viele fantastische Künstlerinnen, die sich in der Vergangenheit keinen Namen machen konnten. Und Eva Wipf ist definitiv eine von ihnen“, bestätigt die Kuratorin dieser Ausstellung, Clare O’Dowd. Dessen Werke waren jedenfalls noch nie zuvor in Großbritannien ausgestellt worden.
„Heiligtum III (Madonna von Laghet)“ von Eva Wipf (1964-68). Arbeit aus Holzschränken, Seifenschalen, einem körperlosen Uhrensockel und einem abgenutzten Küchengrill, der in ein vergittertes Fenster und einen Käfig mit Blick auf einen mittelalterlichen Engel verwandelt wurde.
© Museum Eva Wipf
Die Zusammenstellungen dieser Missionarstochter bestehen aus verschiedenen Gegenständen, die auf Flohmärkten gefunden wurden, und aus Industrieabfällen, die aus Abfall gewonnen wurden. Sie stehen oft im Einklang mit der religiösen Ikonographie. Während wir in den Jahren nach dem Krieg und dem Holocaust um Wissen und Überzeugungen kämpften. Das älteste am Eingang der Ausstellung präsentierte Werk stammt ausgerechnet von Eva Wipf und trägt den Titel «Schrein III».
Sie verlieh Haushaltsgegenständen eine fast göttliche Aura und umschloss sie, so dass sie zu ikonoklastischen Heiligtümern wurden, die zu einer Vision führten, die sowohl ambivalent als auch voller Hoffnung war. Die hier ausgestellten Werke sind das Ergebnis einer Balance zwischen Glauben, Wunder und dystopischen Szenen vor dem Hintergrund des Protests.
Von Meret bis Eva
Eva Wipf war alleinstehend und lebte einen großen Teil ihres Lebens allein. Sie führte ein Tagebuch, das von ihrem starken künstlerischen Ehrgeiz und einer allgegenwärtigen Unsicherheit zeugte. In ihren letzten Notizen vom Juli 1978 zitiert sie den chinesischen Philosophen Lao Tzu. „Wer andere kennt, ist weise; „Wer sich selbst kennt, ist erleuchtet“, sagte er.
„Eva Wipf stand unter dem direkten Einfluss des Surrealismus, insbesondere von Meret Oppenheim. Die beiden korrespondierten sogar gelegentlich. Wir wollten den Einfluss zeigen, den mehrere Generationen von Frauen hatten“, erklärt Clare O’Dowd.
Zwei Werke von Meret Oppenheim sind in Leeds zu sehen: «Eichhörnchen» (1969) et „Wort in giftige Buchstaben gewickelt (wird transparent)“ (1970). Beide entstanden, als der Künstler nach einer 18-jährigen Pause („Krise“) in der Schweiz lebte.
Patricia Allmer weist darauf hin, dass sich ihre Spätwerke auf den Holocaust und die jüdische Identität des Künstlers nach seiner Flucht aus Deutschland in die Schweiz mit seiner Familie konzentrieren.
„Wort in giftige Buchstaben gewickelt (wird transparent)“, de Meret Oppenheim (1970).
© DACS 2024 Courtesy LEVY Galerie, Berlin/Hamburg
«Wort verpackt» ist eine minimalistische Konstruktion aus Eisenstücken. Es zeigt die Enden eines Hakenkreuzes, gefaltet in einer leeren Schachtel. Dreidimensionales Werk und Skizze eines ästhetisierten Nichts, jedoch in strenger Form. Der Schatten der Fäden wird auf eine weiße Oberfläche gezeichnet, wodurch der Druck instabil und unheimlich wirkt.
>> Um mehr über Meret Oppenheim zu erfahren, lesen Sie den swissinfo.ch-Artikel zur neuesten Retrospektive der Künstlerin mit Archivbildern des Schweizer Fernsehens aus den 1950er und 60er Jahren:
Plus
Plus
Wer hat Angst vor Meret Oppenheim?
Dieser Inhalt wurde veröffentlicht am
04. Dez 2021
Derzeit wird eine Retrospektive in Bern gezeigt, bevor sie nach New York und Houston reist. Eine Anerkennung, die durch einen harten Kampf erlangt wurde.
weiterlesen Wer hat Angst vor Meret Oppenheim?
Fackelträger
Mit der Arbeit projiziert uns die Ausstellung schließlich ins Jahr 2017 «Öffne meine Lichtung/ Open My Glade (Flatten)» (2000–2017) von Pipilotti Rist, der aus neun kurzen einminütigen Filmen besteht, die mit einer Kamera vor dem Fenster eines Hochhauses gedreht wurden. Letzterer filmt, wie der Künstler sein Gesicht gegen die Fensterscheibe drückt.
Die Wirkung ist grotesk, sinnlich und surreal. Ihr Lippenstift wird zu einem amorphen Spritzer, ihr grasartiges Haar ist zwischen ihrem Körper und dem Fenster eingeklemmt. Durch diese Performance und den Blick in die Kamera kritisiert die Künstlerin die Art und Weise, wie das Kino die Fata Morgana der Weiblichkeit oft verzerrt, einfängt und fetischisiert.
Videoausschnitt aus „Open My Glade (Flatten)“, Installation von Pipilotti Rist (2000).
© Pipilotti-Kreuz
Obwohl der Surrealismus selbst Frauen oft in eine absolute Vision der Sinnlichkeit und des Irrationalen zwängte, wird hier eine Form der Tradition auf spielerische und selbstreflexive Weise wieder angeeignet, was das Potenzial der Bewegung für Dissens beweist.
Angesichts der erneuten Bedrohung der Rechte von Frauen auf der ganzen Welt und des Aufstiegs der Rechtsextremen in Europa und darüber hinaus zeigt die Ausstellung treffend, wie Alltagsmüll zu Objekten des Widerstands werden kann.
„Das traumatische Surreale“ ist bis zum 16. März 2025 im Henry Moore Institute in Leeds zu sehen. Eine Schwesterausstellung mit dem Titel „Verbotene Gebiete: 100 Jahre surreale Landschaften“ ist bis zum 21. April im Hepworth Wakefield zu sehen.
Text erneut gelesen und überprüft von Reto Gysi von Wartburg und Eduardo Simantob, übersetzt aus dem Englischen von Alain Meyer/sj
Erfahren Sie mehr
Nachfolgend
Vorherige
Plus
Die Schweiz, Dada und hundert Jahre Surrealismus
Dieser Inhalt wurde veröffentlicht am
30. Juni. 2024
Warum verschwand der Dadaismus nach seiner Einführung in Zürich im Jahr 1916 praktisch aus der Schweiz? Die Analyse des Kunsthistorikers und Ausstellungskurators Juri Steiner.
weiterlesen Schweiz, Dada und hundert Jahre Surrealismus
Plus
Wer hat Angst vor Meret Oppenheim?
Dieser Inhalt wurde veröffentlicht am
04. Dez 2021
Derzeit wird eine Retrospektive in Bern gezeigt, bevor sie nach New York und Houston reist. Eine Anerkennung, die durch einen harten Kampf erlangt wurde.
weiterlesen Wer hat Angst vor Meret Oppenheim?
Related News :