Es wäre ein nationaler Präzedenzfall: Noch nie wurde eine ganze Ortschaft wegen einer Naturgefahr umgesiedelt. Die Behörden im Albulatal schlagen drei mögliche Standorte vor. Doch die Brienzer fürchten, auseinandergerissen zu werden.
Es ist später Nachmittag, noch scheint knapp die Sonne auf Brienz, als ein Sattelschlepper auf der schmalen Strasse talwärts fährt. Er ist beladen mit Heuballen. Die Bauern bringen ihren Wintervorrat in Sicherheit. Denn ihr Zuhause ist zur Sperrzone geworden. Schon wieder.
Bereits zum zweiten Mal wird das Bündner Bergdorf evakuiert. 80 Menschen müssen ihr Zuhause verlassen, bis Sonntag, 13.00 Uhr, haben sie Zeit. Sie fliehen vor einer Million Kubikmeter Schutt, die ins Dorf zu donnern drohen. Seit Jahrzehnten rutscht hier der Berg. Und so nehmen die Brienzer mit, was sie können, Kleider, Fotoalben, Ausweise. Und die Bauern das Heu.
Noch gehen die meisten davon aus, zurückkehren zu können. Doch wann das sein wird, weiss niemand. An einer Infoveranstaltung vergangene Woche hiess es, es könne Monate dauern, bis sich die Schutthalde stabilisiere. Es kommt darauf an, wie viel es regnet. Wie rasch im Frühling der Schnee schmilzt. Ob es Felsstürze gibt, die die Halde ins Rutschen bringen könnten. Vorerst bleibt nur: hoffen, bangen, beten.
Doch was, wenn das Dorf für immer unbewohnbar wird? Wenn sich der Schutt löst und alles zerstört? Oder wenn das Risiko für eine Rückkehr zu hoch bleibt? Für diesen Fall arbeiten die Behörden am Szenario einer Umsiedlung. Heisst: Das ganze Dorf würde andernorts neu aufgebaut, potenziell betroffen sind 13 Einfamilienhäuser und 37 Wohnungen. Es wäre die grösste Umsiedlung, die es in der Schweiz je gegeben hat.
Von der Sonnenterrasse ins Schattental?
Zwanzig Autominuten von Brienz entfernt, Richtung Davos, liegt Alvaneu. Zwei Personen steigen aus dem Postauto, das direkt beim Volg hält. Alvaneu liegt wie Brienz im steilen Südhang des Albulatals, die Häuser sind terrassenartig angeordnet, es gibt eine Barockkirche und einen Eintrag im Bundesinventar für schützenswerte Ortsbilder. Hier liegt eine von drei Stellen, die für die Umsiedlung infrage kommen.
Doch die Parzelle, auf der das neue Brienz einst gebaut werden könnte, liegt nicht am Sonnenhang von Alvaneu, sondern unterhalb der Hauptstrasse, neben dem Altersheim. Ein Wäldchen wirft seinen Schatten auf die Wiese, so dass dort der Schnee von letzter Nacht liegen geblieben ist. Es stehen hier zwei Fussballtore ohne Netz, eine Feuerstelle, ein Spielplatz.
Entsteht hier das neue Brienz? Und wie soll das überhaupt gehen – ein ganzes Dorf in ein anderes verlegen?
Seit vier Jahren suchen der Kanton und die Gemeinde Albula, zu der Brienz gehört, nach Orten für eine Umsiedlung. Aber Bauland ist rar, es würde Umzonungen und eine Änderung des kantonalen Richtplans brauchen. Eigentumsverhältnisse müssen abgeklärt, das Orts- und Landschaftsbild berücksichtigt und Konflikte mit Landwirtschaftsbetrieben vermieden werden. Eine schier unlösbare Aufgabe.
Ein zweiter möglicher Standort liegt in Tiefencastel, dem Hauptort der Gemeinde Albula. Tiefencastel liegt 250 Höhenmeter tiefer als Brienz, an der Linie der Rhätischen Bahn. Die betreffende Parzelle liegt in einer Kurve der Hauptstrasse in Richtung Julierpass, eine beliebte Strecke für Töfffahrten. Es heisst, in Tiefencastel sei es im Winter sechs Wochen lang schattig.
Eine eigene Kirche wird es nicht mehr geben
Viele Brienzerinnen und Brienzer reagieren zurückhaltend auf die vorgeschlagenen Standorte. Man hat viel zu verlieren dort oben, Sonne, Aussicht, Ruhe. «Die vorgeschlagenen Standorte sind kein Vergleich zur Lage in Brienz», sagt ein Bewohner, der nicht namentlich genannt werden will. Und: «Wir leben hier seit Jahrzehnten und sind eine Gemeinschaft.»
Der Fall Brienz zeigt, dass es bei der Umsiedlung eines Dorfs um mehr geht als um neue Wohnungen und Häuser. Es geht um Identität. Und um den Zusammenhalt, der in den Gassen entsteht, wo man sich grüsst, in der Kirche, wo man singt, auf dem Dorfplatz, wo man sich trifft. «Wir haben Angst, auseinandergerissen zu werden», sagt der Bewohner.
Daniel Albertin ist Gemeindepräsident von Albula. Er ist Mitglied einer Kommission, die eigens für die Umsiedlung geschaffen wurde, und sagt, man müsse realistisch bleiben. «Es wird kein zweites Brienz geben mit eigenem Dorfplatz und Kirche. Das wäre schön, aber dafür fehlt uns schlicht der Platz.»
Aus dem historischen Bergdorf würde ein verdichtetes Neubauquartier. Das zeigen die wenigen Skizzen, die es von den potenziellen Siedlungen gibt. In einem Bericht heisst es, es stehe jedem Brienzer frei, selbst ein neues Zuhause zu suchen. Die Umsiedlung sei nur ein Angebot.
Doch wer wird auf dieses Angebot verzichten können in einem Kanton, in dem freie Wohnungen bald so knapp sind wie in Zürich?
Die Hoffnung liegt in Vazerol
Seit kurzem gibt es wieder etwas Hoffnung, sie liegt in einer kleinen Siedlung namens Vazerol. Hier befindet sich der dritte mögliche Standort für die Umsiedlung. Vazerol war ein Ortsteil von Brienz, als das Dorf noch eine eigenständige politische Gemeinde war. Es wäre ein Umzug im vertrauten Radius.
Hier wohnt Mike Casutt. Er betreibt ein Architekturbüro und hat vor einigen Jahren ein Ferienhaus in Vazerol gebaut. Die Lage gefiel ihm so gut, dass er nebenan gleich sein eigenes Haus baute. Zehn Meter hinter seinem Küchenfenster flattern rot-weisse Absperrbänder. Hier beginnt die Sperrzone, in der auch Brienz liegt.
Lange galt Vazerol als zu unsicher. Doch im September dieses Jahres wurde die Lage neu eingeschätzt und ein Teil Vazerols aus der Gefahrenzone herausgenommen. Dieser ist nun als Standort im Gespräch. Gemäss einer Umfrage würde die Mehrheit der Brienzerinnen und Brienzer am liebsten hierhin ziehen.
Casutt hätte nichts dagegen, neue Nachbarn zu bekommen. Er findet es gut, dass die Gemeinde die Pläne für eine Umsiedlung vorantreibt. Nur fürchtet er, dass die Interessen der Zweitwohnungsbesitzer in Brienz vernachlässigt würden. «Brienz besteht etwa zu einem Drittel aus Zweitheimischen», sagt er. «Viele sind treue Feriengäste, sie gehören schon lange zum Dorfleben dazu.»
Tatsächlich wurde der Fokus bisher auf die Einheimischen gelegt. Die Sache scheint kompliziert genug. Mit wie viel Geld würden die Bewohner von Brienz entschädigt, wenn sie ihr Haus für immer verlassen müssten? Wer würde zahlen? Und würde das reichen, um an einem der Standorte ein neues Haus zu bauen?
Landwerte sind nicht versichert
Viele dieser Fragen sind offen, denn es gibt kaum vergleichbare Fälle. In Mitholz im Berner Oberland muss zwar auch ein ganzes Dorf umziehen, doch dort ist klar, wer daran Schuld hat. Die Armee hatte in Mitholz einst tonnenweise Sprengstoff eingelagert. Deshalb ist es der Bund, der nun die Häuser der Einheimischen abkaufen muss.
Auch als in den 1950er Jahren das Bündner Dörfchen Marmorera geflutet wurde, war klar, wer zahlt. Die Zürcher Elektrizitätswerke bauten dort einen Staudamm und entschädigten die Dorfbewohner für ihr verlorenes Eigentum. Doch wer ist schuld, wenn ein Berg rutscht?
Ein vergleichbarer Fall wie Brienz findet sich in Schwanden, im Kanton Glarus. Dort wurde 2023 ein Teil des Dorfs von einer Schlammlawine zerstört. Die Gebäudeversicherung zahlte den Eigentümern so viel, wie das Haus zum Zeitpunkt der Zerstörung wert war.
Doch in Brienz wurde bis jetzt kein einziges Haus zerstört. Das Dorf müsste erst zur permanenten Sperrzone erklärt werden, bevor die Versicherungen zahlen würden. Und es gibt ein zweites Problem: Von der Versicherung geschützt sind nur Häuser, keine Landwerte. Viele Grundeigentümer könnten sich kaum anderswo ein Stück Land kaufen.
«Aufgeben heisst aufgeben»
Das Zuhause verlieren – und nicht wissen, wie es finanziell weitergeht. Das Schicksal der Brienzer ist von nationaler Bedeutung. Denn sollte das Dorf dereinst umgesiedelt werden, wird man sich in Zukunft daran orientieren, wie viel Geld dafür gezahlt wurde.
Momentan ist Brienz noch ein Einzelfall. Aber wegen des Klimawandels werden Naturkatastrophen häufiger. Ist man zu grosszügig, macht man zu viele raumplanerische Ausnahmen, wird das nächste betroffene Dorf die gleichen Ansprüche stellen.
Nächste Woche wird die Gemeinde Albula an einem Anlass über die Umsiedlung informieren. Noch hofft Gemeindepräsident Daniel Albertin, dass die Pläne nie in die Tat umgesetzt werden müssen. «Wir müssen uns bewusst sein», sagt Albertin: «Aufgeben heisst aufgeben. Dann gibt es kein Brienz mehr.»
Ein Artikel aus der «»