Analyse zu Bidens ATACMS-Entscheid –
Angst vor einer Eskalation durch die USA? Es ist Putin, der eskaliert
Der US-Präsident erlaubt Kiew endlich den Einsatz weitreichender Waffen auf russischem Gebiet. Jetzt muss Deutschlands Kanzler Scholz nachziehen.
Analyse von Publiziert heute um 15:25 Uhr
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Die empörten Reaktionen aus Russland kamen schnell, und sie kamen wie erwartet. «Höchst provokativ» sei die Erlaubnis Joe Bidens für Kiew, weitreichende US-Waffen nach Russland abfeuern zu dürfen, meldete die «Rossijskaja Gaseta», eine kremlnahe Zeitung, am Montag. Die USA riskierten «katastrophale Konsequenzen». Ähnlich tönte der Sprecher Wladimir Putins. Die USA wollten das «Feuer weiter schüren und eine weitere Eskalation provozieren», sagte Dmitri Peskow. Es dauerte auch nur wenige Stunden, bis aus Russland umherschwirrte, dass nun ein entscheidender Schritt getan sei in Richtung dritter Weltkrieg.
So geht das schon länger. Kremlchef Putin warnt den Westen stets vor diesem Schritt, sagt, er komme einer Nato-Beteiligung in der Ukraine gleich, ergo kämpfe der Westen direkt gegen Russland. Es ist eine Erzählung, die gut verfängt unter seinen Landsleuten: Russland ist das Opfer, das sich gegen den kriegstreibenden Westen wehrt.
Ultimativ nun also die Reaktionen und entsprechend gross die Sorge vieler, es könnte noch schlimmer, noch tödlicher werden in der Ukraine – womöglich auch für westliche Verbündete. Immer wieder droht der Kreml mit dem Einsatz von Atomwaffen. Und nun wollen angeblich neben den USA auch Grossbritannien und Frankreich nachziehen und die Waffensysteme Scalp und Storm Shadow für russisches Territorium freigeben.
Erst Schwärme von Drohnen, dann hochzerstörerische Raketen
Doch die Eskalation ist bereits da – am Wochenende wieder eindrücklich von Russland vorgeführt: landesweiter Alarm. Russland schickte erst grosse Schwärme von Drohnen, dann unzählige hochzerstörerische Raketen. Und natürlich griff Russland nicht nur militärische Einrichtungen an, kritische Infrastruktur und Wohnhäuser waren das Ziel.
Zerstörung in der Hauptstadt Kiew, Explosionen und Einschläge in Odessa, Versorgungsleitungen zerstört, ausfallende Heizungen, mitten im November stehen Menschen Schlange für Wasser – und überall Tote. In Sumi mindestens acht Menschen, unter ihnen Kinder. Schon wieder, wie zuletzt in Kriwi Rih. Aus Odessa machen zu Wochenbeginn grausame Bilder von Leichen auf offener Strasse die Runde.
Und dann ist da die militärische Zuspitzung: Russland beschafft sich neuerdings in grosser Zahl Soldaten aus Nordkorea, zieht das Diktatorenland in den Krieg hinein – die Eskalation ist bereits in vollem Gange, Russland macht es vor. Überfällig ist es also, dass nun die mächtigsten Verbündeten der Ukraine reagieren, die USA.
Russland ist überdies derzeit militärisch im Vorteil. Im Osten der Ukraine machen die Streitkräfte zwar langsam, aber stetig Fortschritte. Hinzu kommt Putins Gutdastehen auf internationaler Bühne: Die westlichen Verbündeten verhaken sich in innenpolitischen Krisen (man denke an die zerbrochene Ampelkoalition in Deutschland), die EU als Ukraine-Allianz steht schwach da. Putin aber reist trotz Haftbefehl ungehindert in die Mongolei, er begrüsst UNO-Chef Antonio Guterres bei seinem Brics-Gipfel in Kasan. Er provoziert und eskaliert, es läuft gut für ihn. Warum sollte der Kreml nun taktische Atomwaffen losschicken, wo dies militärisch nicht notwendig ist, der Schaden für den Kreml aber ungleich grösser wäre?
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Zumal auch der Machthaber im Kreml weiss, dass die weitreichenden Angriffe nicht kriegsentscheidend sein werden. Sie können das russische Militär empfindlich treffen, etwa in Kursk, wo die ukrainische Armee nun einen ersten Angriff planen soll. Drehen werden sie den Krieg aber nicht.
Bidens Entscheid übt nun auch anderweitig Druck aus, und das ist gut so: Der deutsche Kanzler Olaf Scholz verweigert der Ukraine vehement die weitreichenden Taurus-Waffen. Nun steht er vor vorgezogenen Neuwahlen, und seine Bestätigung im Amt ist eher unwahrscheinlich. Er könnte es wie Biden halten, seine verbliebene Zeit nutzen und diese Haltung aufgeben. Das wäre ein klares Signal an Putin, dass der Westen der perfiden Atomdrohung standhält. Dieses Stoppzeichen muss Putin jetzt vorgehalten werden.
Wäre die Freigabe aus den USA früher gekommen, hätten Angriffe verhindert werden können, hätten weniger Menschen sterben müssen – das ist die bittere Einsicht der nun richtigen Biden-Entscheidung. Scholz muss nachziehen – und es käme ihm sogar bequem. Er kann bei seiner Haltung bleiben, dass er sich streng an die Linie der USA halte. Warum also warten?
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