In Maria Furtwänglers neuem TV-Drama «Bis zur Wahrheit» geht es um einen sexuellen Übergriff. Die Hauptdarstellerin und Mitproduzentin erzählt, wie sich das Drehen intimer Szenen im Film verändert hat.
Keine Zeit? blue News fasst für dich zusammen
- Maria Furtwängler spielt im TV-Drama «Bis zur Wahrheit» eine erfolgreiche Ärztin, die sich auf einen Flirt einlässt. Später kommt es zu einem Übergriff, der danach verschwiegen wird.
- Jetzt spricht die Schauspielerin über ihre Erfahrungen mit übergriffigen Männern am Filmset.
- Eine Masturbationsszene im Film «Bis zur Wahrheit» kostete die 58-jährige Schauspielerin einiges an Überwindung.
- «Es war uns extrem wichtig, dass meine Figur diese Sexualität hat – vor und übrigens auch nach der Tat», so Furtwängler.
In «Bis zur Wahrheit» (Mittwoch, 20. November, 20.15 Uhr, ARD) spielt Maria Furtwängler eine erfolgreiche Ärztin, die sich auf einen Nachmittagsflirt mit dem Sohn ihrer Freundin einlässt.
Doch am Ende des Tages kommt es zu einem Übergriff, der aber erst einmal verschwiegen wird. Der präzise Film bügelt das Thema sexuelle Gewalt gekonnt gegen den Strich und irritiert mit Details, die anders sind, als man es aus Vergewaltigungsfilmen kennt.
Im Gespräch erklärt Ideengeberin, Mitproduzentin und Hauptdarstellerin Maria Furtwängler, welche falschen Ideen über sexuelle Gewalt heute noch populär und im Umlauf sind – und wie sich auch Filmdrehs durch das Nachdenken und Reden über sexuelle Gewalt massiv verändert haben.
Frau Furtwängler, in letzter Zeit sieht man auch im deutschen Fernsehen öfter Filme und Serien, die eventuell nicht einvernehmlichen Sex zur Diskussion stellen …
Im Vergleich zu früher werden vor allem mehr Stoffe realisiert, bei denen der mögliche Täter aus dem privaten Umfeld kommt. Was übrigens viel mehr der Realität entspricht als früher, als Vergewaltiger finstere Gesellen waren, die nachts aus einer dunklen Gasse kamen. Ich denke, rund um die Debatte und das Gesetz «Nein heisst Nein» ist – auch bei Filmschaffenden – noch mal ein anderes Bewusstsein entstanden.
Es gab unter anderem von Schirachs «Sie sagt. Er sagt», die Serie «37 Sekunden», den «Tatort: Videobeweis» und nun Ihren Film zum Thema. Was bewirken solche Stücke beim Publikum?
Dass man sich langsam, aber sicher vom Klischee löst, das meine Generation aus ihrer Kindheit kennt und vielleicht vor dem Fernseher über Formate wie «Aktenzeichen XY» entstand. Da waren die Rollen klar verteilt, und die Täter hatten ein eindeutiges Profil. Vergewaltigung im privaten Umfeld kam quasi nicht vor in der Wahrnehmung des medialen Mainstreams.
Und wir dürfen nicht vergessen: Wer hat damals Filme gemacht? Es waren vorwiegend Männer, die dieses Narrativ bedienten. Es ist ja heute noch so: Die Zahlen belegen, der gefährlichste Ort für eine Frau ist ihr Zuhause.
In Ihrem Film werden nun noch ein paar Klischees durcheinander gewirbelt.
Ich nehme an, Sie meinen, dass die Frau deutlich mächtiger erscheint. Sie ist viel älter, erfahren, erfolgreich im Beruf, eine starke Persönlichkeit. Und der Täter: ein junger, süsser Typ. Eigentlich auch ganz reizend in seiner Persönlichkeit. Als «Bis zur Wahrheit» beim Filmfest München lief, gab es durchaus auch Reaktionen der Marke: «Die soll sich mal nicht so anstellen, er sah ja schliesslich gut aus.» Andere fanden den Film total verstörend und Angst einflössend. Es ist genau das, wo wir hinwollten. Zur Diskussion: «Was ist eine Vergewaltigung?»
So eindeutig die Regel «Nein heisst Nein» klingt, es gibt Momente auch beim einvernehmlichen, ja lustvollen Sex, die mit spielerischer Verweigerung zu tun haben. Ein heikles Thema, ja, aber auch eines, das man nicht wegdiskutieren kann, oder?
Weil es so heikel und manchmal auch mehrdeutig ist, übernehmen Filme wie unserer eine wichtige Aufgabe: Man muss am Beispiel konkreter Situationen darüber nachdenken, was tatsächlich passiert ist. Es gibt aber noch andere Faktoren, zum Beispiel die Scham der Opfer. Beim monströsen Vergewaltigungsfall Gisèle Pélicot in Frankreich hat sie einen epochalen Satz geprägt: «Die Scham muss die Seite wechseln.» Offenbar wurde auch diese Frau, die über Jahre von ihrem Mann und anderen Männern systematisch vergewaltigt wurde, damit konfrontiert, sie könne auch ein bisschen selbst schuld daran sein. Diese Sichtweise muss sich dringend ändern.
Man sieht Ihre Figur vor der Vergewaltigung, wie sie masturbiert, kifft und mit ihrem Vergewaltiger flirtet am Tag, der mit der Tat endet. Wie wichtig war es Ihnen, dass Ihre Figur auch ein bisschen «verrucht» ist, wie man früher gesagt hätte …
Sie meinen, dass sie eine Sexualität hat und ihr Leben geniessen will? Es war uns extrem wichtig, dass meine Figur diese Sexualität hat – vor und übrigens auch nach der Tat. Weil es einfach der Realität entspricht, dass es so sein kann. Egal, wie traumatisierend die Tat wirkt. Ein Gedanke, von dem wir wegkommen müssen: dass echte Opfer keine Lust empfinden, nicht verspielt sein dürfen, sich selbst nicht so richtig leiden mögen in ihrer Sexualität. Im Vergewaltigungs-Klischee ist es immer das Mauerblümchen, dem das Schreckliche passiert.
Es gibt eine weitere Frauenfigur, gespielt von Margarita Broich, die sowohl beste Freundin ihrer Figur als auch die Mutter des Täters ist. Was wollten Sie mit ihr zeigen?
Zum Beispiel, dass weibliche Solidarität auch ihre Grenzen hat, wenn man derart persönlich betroffen ist. Der eigene Sohn steht einem dann näher als die Freundin. Und es kommen sogar Sprüche wie: «Ja, du hast ja deinen Mann auch schon einmal betrogen.» Auch das ist ein Klischee-Vorwurf, der die Schwere einer Vergewaltigung mindern soll. Obwohl er gar nichts zur Sache tut.
Martina, Ihre Rolle im Film «Bis zur Wahrheit», ist keine rundum sympathische Figur …
Nein und auch das war uns wichtig. Wie sie zum Beispiel mit ihrem Mann umgeht, das ist nicht besonders nett. Sie hat durchaus ihre anstrengenden Züge. Doch auch das passt zum Gesamtkonzept, dass alle Figuren ambivalent sind. Bei einem Mann haben wir auch kein Problem mit Ambivalenz. Bei Frauen wird es immer noch als etwas Besonderes herausgekehrt.
Unser Film ist an entscheidenden kreativen Stellen, zum Beispiel Buch und Regie, von Frauen gemacht worden. Auch wenn unser Team am Ende gerade mal etwa 50 Prozent weiblich war, ist allen aufgefallen, wie ungewöhnlich weiblich es war. Ich finde, man merkt es aber im fertigen Film, den ich als Initiatorin und Koproduzentin stark mitgeprägt habe. All das, worüber wir hier gerade reden, war uns wichtig zu zeigen.
Dass Martina eine Lebenslust verspürt, die man vor allem vor der Tat gezeigt bekommt, auch das scheint Ihnen wichtig zu sein. Wie ekstatisch darf man mit über 50 leben?
Das ist eine etwas eigentümliche Frage. Es ist in der Tat ein Thema, das mich interessiert. Ich habe neulich ein Video mit vielleicht 75 Jahre alten Frauen gesehen, in dem die ziemlich ekstatisch tanzen. Das Video ist viral gegangen, was wahrscheinlich heisst, dass viele Leute darüber herzlich gelacht haben. Mit 20 Jahren hätte ich das wahrscheinlich auch getan. Doch je näher man selbst ans Alter heranrückt, desto mehr denke ich: Warum eigentlich nicht? Die Lebenslust, dazu zählt auch die Sexualität, geht ja nicht einfach weg …
Das denkt nur die Jugend, oder?
Ja, und ich verstehe das auch. Nichts ist schlimmer für Jugendliche als unvernünftige Eltern, die verrückte Dinge machen, von denen man dachte, sie wären einem selbst und der eigenen Generation vorbehalten. Ich weiss noch, dass die Vorstellung, dass meine Eltern Sex haben, mir in meiner Pubertät total eklig vorkam. So ist man eben in diesem Alter. Eltern stehen, wenn es gut läuft, für Stabilität und Berechenbarkeit im positiven Sinne.
Auch bei diesem Film kam ein Intimitäts-Coach zum Einsatz, also jemand, der oder die intime Szenen am Filmset oder im Theater begleitet. Wie sehr hat der Job Ihren Beruf verändert?
Es ist ein sehr wichtiger Job, und er hat unseren Beruf stark verändert. Es geht damit los, dass es heute kaum noch Dreharbeiten mit intimen Szenen gibt, bei denen diese Position nicht besetzt wird. Wenn man sieht, wie da gearbeitet wird, fragt man sich schon, wie es früher ohne Intimitätskoordination ablief. Sexuelle Szenen im Film sind eigentlich wie Stunts. Sie stellen eine besondere Herausforderung für die Schauspielenden dar, weil hier über Ängste und Grenzen hinweggegangen wird. Niemand wäre früher auf die Idee gekommen, einen Stunt ohne Stuntleute oder Stunt-Koordinatoren zu drehen.
Wie genau läuft die Arbeit mit dem Intimitäts-Coach ab?
Es beginnt mit einem Gespräch unter vier Augen mit dem oder oft der Koordinatorin. Als Schauspielerin oder Schauspieler sagt man ihr, wo man angefasst werden will und wo nicht. Mit welchen Handlungen man vielleicht Probleme hat. Man bespricht, was die Kamera darf und vielleicht auch, wer im Raum sein darf. Auch die Szene selbst wird von ihr begleitet. Manchmal werden bestimmte Körperteile abgeklebt, um sich als Schauspielerin oder Schauspieler sicherer zu fühlen. Es geht bis zur Reichung des Mundspülwassers nach dem Küssen (lacht). Man fühlt sich durch die Position des Intimitäts-Coach wirklich gut geschützt.
Und das war früher ganz anders?
Ja. Es war nicht nur sehr anders früher, sondern auch sehr unangenehm.
Weil niemand so genau wusste, was er oder sie machen darf?
Sexszenen waren für uns Schauspielende meist angstbesetzt. Man dachte im Vorfeld: Oh Gott, was ist, wenn der mir jetzt da oder dorthin greift? Oder: Wird er mir beim Küssen die Zunge reinstecken? Sie müssen sich das mal vorstellen: Man wird intim mit Menschen, die man kaum kennt, nur weil es ein Drehbuch will. Man weiss dazu nicht, was gleich passieren wird. Es ist eine absurde, unmenschliche Situation. Man konnte sich einfach nicht richtig in die Szene fallen lassen, was ja das Ziel der Schauspielerei ist. Wenn man hingegen weiss, was der andere gleich tun wird und das besprochen ist, kann man eine Szene viel besser spielen, finde ich.
Nacktszenen im Film waren früher ein Tabu. Irgendwann wurden sie normaler. Seit einigen Jahren wird nun infrage gestellt, ob Nacktheit für eine Szene notwendig ist oder ob sie nur Voyeurismus bedient. Einige beklagen, dass Filme dadurch prüder geworden sind. Wie ist Ihre Position?
Als Darstellerin einer «Tatort»-Kommissarin bin ich auf jeden Fall froh, dass man mittlerweile oft darauf verzichtet, blutjunge weibliche Leichen nackt auf dem Obduktionstisch oder entkleidet am Ort des Verbrechens zu zeigen. Ich finde, an dieser Stelle gab es früher viel überflüssigen und entwürdigenden Voyeurismus. Ich finde es grundsätzlich gut, dass man sich überlegt, welche Szenen im Sinne der Handlung nötig zu zeigen sind. Dazu gehören in «Bis zur Wahrheit» sowohl die Masturbations- als auch die Vergewaltigungsszene. Ich glaube aber auch, dass man bei Gewaltszenen oft Dinge zeigt, die nicht nötig wären. Bei Nacktszenen wird viel über den männlicher Blick diskutiert, also die Tatsache, dass weibliche Nacktheit im Film meistens ok ist, männliche aber nicht. Warum eigentlich? Weil Männer bestimmt haben, was in Filmen interessant ist. Wir dürfen künstlerische Kreativität im Film nicht einschränken – aber wir müssen auch genau hinzuschauen, warum im Film Dinge so sind, wie sie sind.
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