„In meinem ganzen Leben werde ich nie den Augenblick vergessen, als ich mit meinem Vater an einem Dienstagabend im Spätherbst 1988 die Treppenstufen ins Weserstadion hochstieg. Oben angekommen, tat sich vor mir das im Flutlicht glitzernde Rund auf. Und es war, als öffne sich das Tor zu einer ganz neuen, faszinierenden Welt.“ So hat Florian Kohfeldt vor einigen Jahren dem Fußballmagazin „11Freunde“ erzählt, wie er dem Fußball und im Speziellen Werder Bremen verfiel.
36 Jahre später wird Kohfeldt wieder an einem Dienstagabend im Spätherbst auf das im Flutlicht liegende Weserstadion blicken. Es wird ein erhabener Moment sein. Ein Moment aber auch, der ihn zutiefst befremden dürfte. Erstmals in seinem Leben wird er – jetzt Trainer des Zweitligaklubs Darmstadt 98 – gegen den Verein antreten, den er liebt. „Das ist ein Gedanke, an den ich mich erst stark gewöhnen musste, dass ich mal für 90 oder 120 Minuten nicht für Werder Bremen sein darf“, sagte er vor dem Achtelfinale im DFB-Pokal an diesem Dienstag (20.45 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zum DFB-Pokal und bei Sky). „Aber das werde ich schaffen, da bin ich mir sehr sicher.“
Zwei Jahrzehnte im Verein von der Weser
Kohfeldt ist nicht nur Fan von Werder. Der 42-Jährige verbrachte zwei Jahrzehnte seines Lebens im Verein, den er noch heute als emotionale Heimat bezeichnet. 2001 kam er als Torwart zur dritten Mannschaft und musste bald einsehen, dass ihm für Höheres als den hohen Amateurfußball das Talent fehlte. Er wurde anderweitig gefördert. Mit 23 begann er Werders Jugend zu trainieren. Irgendwann einmal die Bundesligamannschaft anzuleiten, daran habe er nicht gedacht, sagt er. Aber so kam es.
Viktor Skripnik, dessen Assistent Kohfeldt schon in der Altersklasse der unter Siebzehnjährigen gewesen war, nahm ihn 2014 als Ko-Trainer zu den Profis mit. Und als Werder im November 2017 in den Abstiegskampf geriet, bot sich Kohfeldt die Chance seines Lebens. Er war erst 35 und wurde zum Erstligatrainer bei seinem SV Werder befördert. Schnell spielte eine zuvor entmutigte Mannschaft wieder lustvoll Fußball. Seine Spieler, allen voran Zocker Max Kruse, schwärmten von Kohfeldts Matchplänen. Im Rückblick erinnert das an die jetzige Situation in Darmstadt. Das Team aus Südhessen ist seit acht Pflichtspielen ungeschlagen.
In Bremen ging es für Kohfeldt noch bis in den Mai 2019 stetig aufwärts. Um nur einen Punkt und eine um wenige Zähler bessere Tordifferenz verfehlte seine Mannschaft den Europapokal. Anschließend fielen der Verein und er tief. Zwei Jahre später, im Mai 2021, wurde Kohfeldt nach dem vorletzten Spieltag entlassen. Bremen stieg ab. „Es war mit weitem Abstand das Schlimmste, was ich in meinem Fußballerleben bisher erlebt habe, und ich kann mir nicht vorstellen, dass da noch viel kommt, was das toppen wird“, sagte Kohfeldt jetzt in einem Interview mit dem Werder-Portal „Deichstube“.
Und doch ist Kohfeldts Verhältnis zu seinem Herzensverein und dessen Mitarbeitern über sein bitteres Ende als sportlich Verantwortlicher nicht in die Brüche gegangen. Vor der Reise aus dem Südhessischen in den Norden sprach er davon, dass es sich wie „Nach-Hause-Kommen“ anfühlen werde.
Mehr als ein Spaziergang durch die Vergangenheit
Da ist das Weserstadion, der Ort, „mit dem ich viele wunderbare Erinnerungen verbinde, sowohl in der Zuschauerrolle als auch dann in der aktiven Rolle“. Bedeutsamer aber sei das Wiedersehen mit den Menschen, „mit denen ich über mindestens ein Jahrzehnt täglich zusammengearbeitet habe“. Auf diese Begegnungen freut sich Florian Kohfeldt, dem solche Beziehungen immer wichtig waren, besonders.
Dass die Fahrt nach Bremen nicht primär ein Spaziergang durch die eigene Vergangenheit ist, sondern eine Dienstreise des SV Darmstadt 98, daran ändert selbstverständlich alle Zuneigung für den Gegner nichts. Ein Sieg würde die „Lilien“ zum erst zweiten Mal nach 1986/87 ins Pokal-Viertelfinale führen. Aufgrund des Qualitätsunterschieds zwischen der Bundesliga und der Zweitliga-Mannschaft ist ein Darmstädter Erfolg zwar nicht zu erwarten. „Es ist wahrscheinlich, dass Werder neun- von zehnmal dieses Spiel gewinnt“, sagte der „Lilien“-Trainer.
Eine Chance aber biete dann doch der Ort, der Kohfeldt als Kind und seitdem für den Fußball einnahm: das Weserstadion unter Flutlicht. Wenn sein Team die „Wucht und Energie dieses Stadions, das sehr besonders sein kann“, als Kraftquell nutze, dann böte sich womöglich „dieser eine Moment, der uns als Außenseiter ins Viertelfinale bringt“.