Stand: 21.12.2024, 09:00 Uhr
Von: Michaele Heske
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Für viele Menschen sind die Festtage besonders belastend. Ein neues Angebot in Taufkirchen versucht, dem entgegenzusteuern.
Dorfen/Taufkirchen – Alle Jahre wieder. Weihnachten steht vor der Tür. Die einen haben Stress, weil die Sippschaft kommt, die anderen, weil sie am Heiligen Abend alleine sind. Allen gemein ist die Vorstellung des perfekten Familienfestes so, wie es die Werbung suggeriert: Gans, Geschenke, Lichterglanz. Die Heimatzeitung sprach mit Experten über Erwartungen und Einsamkeit.
Herzensprojekt für mehr Miteinander
„Die Einsamkeit nimmt zu, das ist längst kein Großstadtproblem mehr – es gibt auch bei uns viele Menschen, auf die an den Feiertagen niemand wartet“, so die Beobachtung von Silke Geyer und Jennifer Voss. Niemand soll an Heiligabend alleine sein, meinen die beiden Dorfenerinnen.
Sie laden zu Plätzchen und Punsch ins Mehrgenerationenhaus Taufkirchen ein. Gefeiert wird von 15 bis 17 Uhr. Singen unterm Christbaum gehört genauso dazu wie Kickern oder Ratschen. „Wir haben kein Programm – das ist ein offenes Angebot für Jung und Alt, bei dem wir Menschen zusammenbringen möchten“, sagt Geyer.
Es sei ein erster Versuch, ein bisschen wie eine „Wundertüte“, beschreibt Geyer die private Initiative, die bewusst unter keinem offiziellen Label steht. „Das ist ein Herzensprojekt von mir, ich bin überzeugte Christin und will für Menschen da sein, denen es nicht so gut geht“, erklärt Sozialpädagogin Voss.
Claudia Wegmann, Leiterin des Mehrgenerationenhauses, war sofort begeistert von der Aktion „Heiligabend gemeinsam“. Auch sie wird am 24. Dezember mitfeiern, ebenso wie viele andere Leute aus Dorfen und Taufkirchen. „Wir klinken uns in diesem Jahr bewusst aus der Familie aus“, fügt Geyer an.
Die Hemmschwelle sei allerdings groß, befürchtet Voss. „Man gibt ja nicht gerne zu, dass es keine Familie, keine Freunde gibt, die mit einem feiern wollen.“ Bei Einsamkeit ist die Dunkelziffer hoch, zumal sich ja in kleineren Orten fast alle untereinander kennen. „Es wäre schön, wenn wir Berührungsangst abbauen und eine neue Heiligabend-Tradition für alle etablieren könnten“, betont Geyer.
Lieber Ruhe als zu viel Perfektion
Gerade über Weihnachten wird den Menschen ihre Einsamkeit noch bewusster: „Es ist ein Familienfest. Alle sitzen zusammen, nur ich bin alleine – dieser Gedanke potenziert die Traurigkeit noch“, weiß die Dorfener Psychotherapeutin Daniela Obermaier. Sie würde sich wünschen, dass es in Restaurants oder Cafés einen offenen Tisch über die Feiertage gibt. „Da können sich dann jene unverbindlich treffen, die Anschluss suchen“, appelliert sie an die hiesigen Wirte.
Weihnachten werde allerdings auch stark idealisiert, gibt die Psychologin zu bedenken. Schon im Advent fangen die Vorbereitungen an: Weihnachtskarten an Freunde und Verwandte schreiben, den Christbaum schmücken. „Es muss nicht immer ein Sechs-Gänge-Menü sein“, rät Obermaier zur Selbstfürsorge. „Alles runterfahren, sich die Feiertage passend einzurichten.“
Auch Mütter hätten einen Anspruch auf besinnliche Festtage. Und wer keine kleinen Kinder habe, müsse auf den letzten Drücker nicht mehr Weihnachtsgeschenke besorgen: „Man kann sich auch gegenseitig einen gemütlichen Heiligabend schenken.“
Eine neue Studie zeigt auf, dass es besonders an Heiligabend, den Weihnachtsfeiertagen und an Neujahr mehr Herzinfarkte gibt, als außerhalb der Festtage. Diese Beobachtung hat auch Dr. Carsten Husemann, Kardiologe im MVZ Dorfen gemacht. Familienfeste seien oft eine Achterbahn der Gefühle: „Ein Mix aus freudiger Erregung und großer Anspannung – gerade bei Menschen mit Vorbelastung kann der Stresslevel gesundheitliche Probleme auslösen.“
Die Gans und das Glas Rotwein will der Mediziner den Leuten an Weihnachten freilich nicht vermiesen, sagt er. „Aber man könnte den Vorsatz für das neue Jahr fassen, mehr auf eine gesunde Ernährungsweise zu achten und vor allem mit dem Rauchen aufzuhören.“
Bei Telefonseelsorge klingelt es oft
Nicht nur die Feiertage machen den Leuten zu schaffen, so die Erfahrung von Alexander Fischhold, der die katholische Telefonseelsorge der Erzdiözese München Freising leitet, die auch für den Landkreis Erding zuständig ist. „Die Zeit zwischen den Jahren ist oft deutlich belastender“, weiß er.
An Weihnachten selbst seien die meisten Menschen familiär eingebunden. Wer zurück in die leere Wohnung komme, spüre die Einsamkeit deutlicher, oft seien zudem Erwartungen nicht erfüllt worden. „Das Fest war längst nicht so friedlich wie erhofft, es gab Streit, schmerzliche Erinnerungen wurden wach.“
Die Telefone sind rund um die Uhr besetzt. In der dunklen Jahreszeit klingelt es besonders oft. Am häufigsten melden sich Menschen, die unter Einsamkeit und Ängsten leiden, die sich mit psychischen Schwierigkeiten vermischen. Oder die mit Familienproblemen wie Scheidung, Erbschaft, oder Streits und beruflichen Problemen kämpfen. „Alles, was man sich vorstellen kann plus zehn Prozent mehr“, sagt Fischhold.
So verschieden wie die Anliegen, sind auch die Personen, die die Telefonnummer (08 00) 1 11 02 22 wählen. Es gibt einmalige Kontakte oder Wiederholungsanrufende, die nur mal wieder mit jemandem sprechen wollen. Bis Heiligdreikönig melden sich zudem viele Menschen, die bereits in psychologischer Behandlung sind. Sie suchen eine Überbrückung, so Fischhold. „Zwischen den Jahren gibt es ganz wenig Struktur – zudem sind die Therapeuten nicht erreichbar, Praxen und Beratungsstellen haben geschlossen.“