TV-Kritik Zürcher «Tatort» –
«Ich stürm jetzt denn grad e Grossbank: geil, oder?»
Der neue Zürcher «Tatort» hat Pep und Poesie – trotz unüberhörbarer gesellschaftspolitischer Predigt.
Publiziert heute um 21:25 Uhr
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Die Zürcher haben uns eine Weihnachtsüberraschung beschert! Schon die letzte «Tatort»-Folge aus der Limmatstadt, «Von Affen und Menschen», hatte die gedämpften Erwartungen übertroffen, ja, war sogar richtig gut ausgefallen. Jetzt hat das gleiche Autorenteam, Stefan Brunner und Lorenz Langenegger, mit «Fährmann» aufs Neue einen Film geschrieben, den man sich sehr gern gefallen lässt.
Trotzdem eine Warnung vorab: Das kapitalismuskritische Grollen, das wir aus früheren Zürcher Episoden kennen, hat sich hier zu einem regelrechten Donnerwetter ausgewachsen. Der gesamte Fall, von den Randfiguren bis zum Episoden-Antihelden, dreht sich um die Ungleichheit, diesen Systembaustein unserer neoliberalen Gesellschaft; um die erbarmungslose Einteilung in Gewinner und Verlierer. Ja, um «ökonomische Euthanasie», wie der Datenanalyst des Kommissariats (Aaron Arens) formuliert. Wer zum Christfest also keine gesellschaftskritische Predigt hören mag – also selbst dann nicht, wenn sie im Sonntagskrimisound und mit Pep und Poesie daherkommt –, für den ist «Fährmann» kein Geschenk.
Backstory von Ermittlerin Grandjean wird gezeigt
Die andern aber können eine Menge auspacken: einen Thriller und die spannende Neuenburger Backstory der Ermittlerin Grandjean (Anna Pieri Zuercher), geschmeidig geschnittene Parallelhandlungen und einen atemlosen Wettlauf mit der Zeit; lichtergesprenkelte Zürcher Weihnachtsmarktfolklore und phantasmagorische Bilder aus der griechischen Mythologie.
So wird dem TV-Publikum bereits im Vorspann das Gesicht des Mörders gezeigt, Grandjean dagegen kapiert die Sache erst in der Konfrontation am Schluss. Anders gesagt: Statt einem Whodunnit gibts hier ein Howshegetsit. Die meiste Zeit ist der attraktive Unternehmensberater für Grandjean nichts als ein geheimnisvoller Gelegenheitslover (Lucas Gregorowicz) – auch das ein Novum. Er führt sie nicht nur an der Nase herum, sondern zurück zum Anfang ihrer Karriere, und diese Geschichte hat ihren eigenen Unterhaltungswert.
Ebenfalls von den ersten Filmsekunden weg mit dabei ist Charon, der Toten-Fährmann aus der Antike. In düsteren Visionen stochert er in seinem Nachen jeweils heran, während der schicke Mörder seinen Opfern die Münze für die Überfahrt über den Totenfluss in den Mund legt. Der Serientäter hat es auf Arbeitslose abgesehen, die er, in seiner Hybris, von ihrer Nutzlosigkeit erlösen will. Geschniegelt, wie Regisseur Michael Schaerer (der auch für «Von Affen und Menschen» zeichnete) symbolische Überhöhung und psychologische Verdrehung ineinanderwindet. Gekonnt auch, wie er die separaten Ermittlungen von Grandjean und Ott (Carol Schuler) Schritt für Schritt nebeneinander herführt bis zum wilden Finale.
«Ich stürm jetzt denn grad e Grossbank: geil, oder?», lacht die von ihrer grossbürgerlichen Kindheit versehrte Ott ins Telefon, während Grandjean sich selbst aus dem Spital entlässt und aufmacht zum Paradeplatz, wo sich der Hauptsitz der Bank befindet (wo sonst). Vielleicht, vielleicht wird Grandjean Ott ab jetzt sogar endlich duzen; die Zeit für polierte Piefigkeiten ist jedenfalls vorbei. Und sogar die poetische Gerechtigkeit wurde dem Publikum hier ins Präsentli gepackt. Frohe Weihnachten!
Liebe Alexandra ist Redaktorin im Ressort Leben, Schwerpunkte sind Theater und Gesellschaftspolitisches. Studium der Germanistik und Anglistik in Konstanz, Oxford und Freiburg i Br.Mehr Infos
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