Mit nervöser Ungeduld wartet die Welt auf den Wahltag in den USA und vertreibt sich die Zeit mit: Umfragen, Umfragen, Umfragen. Jeden Tag ein neuer Wasserstand: Mal liegt Trump einen Millimeter weiter vorn, mal Harris. Jede dieser Wasserstandsmeldungen wird zelebriert, als handele es sich schon um das Wahlergebnis. In großen Lettern wird der neueste Trend auf Titelseiten verkündet, über Pushmitteilungen in die Welt geschickt, von Fernsehmoderatoren verlesen wie die heilige Messe – ohne dass irgendwer je auf die beträchtliche Fehlermarge hinweist.
Was bringt das? Was nützt all die aufgeregte Zahlenakrobatik, wenn am Ende sowieso nur feststeht, dass nichts feststeht? Verdunkelt der Zahlennebel vielleicht sogar den Blick? „Eigentlich schauen alle nur, was die anderen machen, und passen ihre Ergebnisse dann an“, konstatierte der Wahlforscher Andreas Graefe gerade im FAZ-Podcast. Das klang so, als sitze die Öffentlichkeit in ihrer Gier nach Selbstvermessung einer mehr oder weniger sinnlosen Wissenschaft auf. Man könnte ebenso gut eine Münze werfen.
Bestenfalls unterhält die ständige Selbstbespiegelung, schlimmstenfalls entpolitisiert sie ganze Teile der Gesellschaft, die sich entnervt vom Meinungsprognosezirkus abwenden. Und spätestens dann, wenn die Demoskopen völlig falsch liegen, ist der Schock groß.
So war es 2016, als Donald Trump entgegen allen Umfragen Hillary Clinton besiegte. Und auch als Großbritannien für den Brexit stimmte, entgegen der felsenfesten Überzeugung aller Meinungsforscher und Buchmacher. Das war mehr als ein methodischer Unfall. Es war vielleicht sogar das Ergebnis der ständigen Umfragen: So waren Clinton-Fans in den USA und Proeuropäer in Großbritannien zu Hause geblieben, weil sie ihre Stimmen angesichts einer scheinbar sicheren Mehrheit für verzichtbar hielten.
In Deutschland konnte man 2013 sehen, was passiert, wenn Wähler sich nach Umfragen richten. Die Institute hatten die FDP alle sicher über der Fünfprozenthürde gesehen. Und weil die FDP-Freunde darauf vertrauten, um selbst doch lieber CDU zu wählen, flog die Partei aus dem Bundestag.
Vor gut einem Jahr wiederum prophezeiten die Meinungsvermesser, das Bündnis Sahra Wagenknecht könne die AfD halbieren und so gewissermaßen die Demokratie retten. Stattdessen blockieren die Populisten am rechten und linken Rad nun alle seriösen Versuche, eine Regierung zu bilden.
Umfragen können wichtige Hinweise auf Stimmungen geben, aber in Dauerschleife veröffentlicht, bedingen sie sich nur noch selbst. Meinungsforschung macht Meinung und verfälscht Ergebnisse. Sie beeinflusst einerseits die Wähler, die taktisch wählen statt nach Überzeugung, andererseits die Politiker, die keine langfristigen Entscheidungen mehr zu treffen wagen, weil sie schon auf die nächste Sonntagsfrage schielen.
Wäre es nicht erleichternd, Umfragen in den letzten sechs oder vier Wochen vor dem Wahltag zu verbieten, so wie es in anderen Ländern der Fall ist? Die Öffentlichkeit könnte dann in den entscheidenden Wochen vor der Wahl über politische Themen diskutieren statt über Zahlen und Szenarien. Die Wähler könnten nach ihren Präferenzen entscheiden, statt sich den Kopf über verlorene Stimmen zu zermartern. Briefwähler können ihre Unterlagen abgeben, ohne von der nächsten Umfrage überrollt zu werden. Und der Wahlabend wäre wieder richtig spannend.
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