Die selbsternannte «Fortschrittskoalition» brachte nie die Kraft auf, Deutschlands politische Lebenslügen zu korrigieren. Das wird nun wohl die Aufgabe der CDU werden. Sie ist für den Zustand des Landes massgeblich mitverantwortlich.
Sie lesen einen Auszug aus dem werktäglichen Newsletter «Der andere Blick», heute von Morten Freidel, stellvertretender Chefredaktor NZZ Deutschland. Abonnieren Sie den Newsletter kostenlos. Nicht in Deutschland wohnhaft? Hier profitieren.
Der Traum der selbsternannten «Fortschrittskoalition», den Grosstanker Deutschland steuern zu können, währte nur wenige Monate. Er ist spätestens in dem Moment geplatzt, in dem dieser Tanker das erste Mal in stürmische See geriet: beim Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. Seitdem greifen sich der Kapitän Olaf Scholz und seine Offiziere auf der Brücke gegenseitig ins Steuer.
Der Krieg hat die politischen Lebenslügen der Deutschen schonungslos offengelegt, denen ein Grossteil des Landes verfallen war.
Gescheitert war mit Russlands Einmarsch eine Energiepolitik, die das Land abhängig machte von russischem Gas. Gescheitert war der Versuch, eine Pendeldiplomatie zwischen Russland und Amerika zu etablieren und das ehemalige Sowjetreich an Europa heranzuführen. Gescheitert war eine Verteidigungspolitik, die in erster Linie darauf setzte, dass Deutschland von Freunden umgeben war, und erst in zweiter Linie auf eine schlagkräftige Armee. Gescheitert war zuletzt eine Politik, die auf immer mehr Staat und Schulden setzte, um strukturelle Probleme abzumildern, statt sie abzutragen.
Zur Verteidigung der nun geplatzten Koalition lässt sich manches vorbringen. Sie geriet in jenem Februar 2022 nicht nur in stürmische See, sondern in einen Orkan, der die geopolitische Lage durcheinanderwirbelte. Dass er Deutschland mit einer solchen Wucht treffen konnte, geht ausserdem auf das Konto von Vorgängerregierungen. Es ist vor allem das Erbe Angela Merkels.
Nur für kurze Zeit entstand der Eindruck, dass die Koalition ihrer Aufgabe gewachsen sein könnte. Es war der Moment, in dem Kanzler Scholz im deutschen Parlament eine «Zeitenwende» ausrief und 100 Milliarden Euro zusätzliche Schulden aufnahm, um die deutsche Armee aufzurüsten. Aber schon bald obsiegten in der russlandfreundlichen SPD die Beharrungskräfte. Seitdem stritt man sich in der Partei wieder über jeden weiteren Euro für das Militär, wie in der vermeintlich guten alten Zeit.
Dass die Regierung überfordert war, zeigte sich endgültig beim unwürdigen Gezerre um den Atomausstieg. Spätestens in jenem Februar 2022 hätte man erkennen müssen, dass man nur mit den Meilern die Abhängigkeit vom Gas deutlich verringern und die Energiepreise für die Industrie in ausreichendem Masse senken kann. Andere Länder taten genau das, geräuschlos obendrein. In Deutschland brauchte es ein Machtwort des Kanzlers, um die verbliebenen Kernkraftwerke länger am Netz zu lassen. Für ein paar mickrige Monate, wohlgemerkt.
Statt in grossen Linien zu denken, verhedderte sich die Regierung Scholz im Klein-Klein ideologischer Grabenkämpfe. Sie beharrte auf einer klimaneutralen Transformation, die theoretisch in eine strahlende Zukunft führt, praktisch aber in die Deindustrialisierung. Sie hielt an dem linken Glaubenssatz fest, dass der Staat besser als die Wirtschaft weiss, in welche Richtung es gehen soll. Sie gab ständig Marschrouten vor, statt Leitplanken zu setzen und auf den heilsamen Wettbewerb des Marktes zu vertrauen.
Geblieben ist nur ein Sicherheitspäckchen
Den allerletzten Beweis ihres Scheiterns erbrachte diese Regierung in der Migrationspolitik. Nach den Anschlägen von Mannheim und Solingen kündigte sie vollmundig ein Sicherheitspaket an, um irreguläre Einwanderung nach Deutschland zu bekämpfen. Geblieben ist allenfalls ein Sicherheitspäckchen.
Die Aushebelung des Asylrechts durch Migranten, die einfach nur ein besseres Leben suchen, erschüttert Europa in seinen Grundfesten. Auch die scheidende deutsche Regierung verpasste die Gelegenheit, dieses Problem an der Wurzel anzupacken. Und selbst ihre kosmetischen Massnahmen gingen den linken Kräften im Bündnis noch zu weit. Seither ist vielen Bürgern das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Staates abhandengekommen. Die jüngsten Wahlen im Osten des Landes zeigten es eindrucksvoll.
Auch in der Europäischen Union hat diese Politik Schaden angerichtet. Wenn es um die Begrenzung der Migration geht, spielt Deutschland in der Staatengemeinschaft mittlerweile nur noch die Rolle eines Statisten.
Insgesamt brachte diese Koalition weder den Mut noch die Kraft auf, den Sturm abzuwettern, in dem sich Deutschland und der europäische Kontinent befinden. Deshalb war es richtig, dass die FDP mit ihrem Positionspapier nun so viel Druck aufbaute, dass es am Ende zum Bruch kam.
All das geschieht allerdings sehr spät. Deutschland hat wertvolle Zeit verspielt. Das noch immer mächtigste Land Europas befindet sich mit der Wahl Donald Trumps im Auge des Sturms. Es gibt keinen Weg zurück zur illusorischen Kumpanei mit dem autokratischen Kriegsherrn Wladimir Putin. Und die Amerikaner erwarten, dass Europa und Deutschland sich eigenständig verteidigen können. Auch die weitere Militärhilfe für die Ukraine könnte an Letzteren hängenbleiben.
Sinnbildlich für die Überforderung dieser Regierung stand der Moment, in dem Kanzler Olaf Scholz am Mittwochabend vor die Presse trat. Scholz wollte staatsmännisch wirken und überzog seinen geschassten Finanzminister stattdessen mit kleinlichen Vorwürfen. Er tat so, als sei die Wahl Trumps wie eine Naturkatastrophe über Deutschland hereingebrochen, dabei lag diese seit Monaten im Bereich des Möglichen.
Schluss mit den sedierten Debatten
Scholz forderte vor dem Bruch die Aushebelung der Schuldenbremse – also noch mehr Geld, um die immergleichen Probleme zu kaschieren. Und schlimmer noch: Er will den Termin für Neuwahlen bis zum März hinauszögern, um seiner Partei mehr Zeit für die Vorbereitung des Wahlkampfs zu geben. Der Kanzler mag bei alledem das Wohl des Landes im Blick haben, wie er selbst behauptet. Sein Handeln aber schadet dem Land.
Der Niedergang der Regierung Scholz muss den bürgerlichen Kräften in Deutschland eine Warnung sein. Selbstverständlich sollten sich die oppositionellen Unionsparteien CDU und CSU einer Zusammenarbeit mit Rot-Grün in der gegenwärtigen Lage nicht verschliessen. Genauso wenig aber sollten sie Scholz’ Gerede vom «Zusammenhalt» auf den Leim gehen.
Deutschland braucht nicht noch mehr sedierte Debatten, sondern mehr Streit über die künftige Ausrichtung seiner Politik. Das Land braucht nicht mehr Schulden, um weiterzumachen wie bisher, sondern mutige Richtungsentscheidungen. Vor allem braucht es sofortige Neuwahlen. Die bisherigen Regierungsfraktionen im Bundestag haben das Vertrauen des Souveräns verloren.
Die Union wird aus der nächsten Bundestagswahl vermutlich siegreich hervorgehen; in den Umfragen liegt sie seit Monaten stabil vorne. In dem Fall muss sie der Versuchung widerstehen, dem Land mehr von dem Gift zu verabreichen, das es krank gemacht hat. Man kann eine Energie- und Wirtschaftspolitik, die in den Mangel führt, nicht mit Subventionen richten. Man muss sie ändern. Man kann der Aushebelung des Rechts in der Migration nicht mit markigen Worten und aktionistischen Messerverboten begegnen. Man muss die Herrschaft des Rechts wiederherstellen.
Was bürgerliche Politik jetzt leisten muss
Die gegenwärtige Krise ist die letzte Chance für die Union. Sie ist massgeblich mitverantwortlich für die Missstände im Land. Wenn sie jetzt nicht beweist, dass sie es besser kann, dann dürfte das «blaue Wunder», vom dem die AfD träumt, tatsächlich bald eintreten.
Deutschland braucht einen Kanzler, der in grossen Linien denkt und auch bereit ist, diese durchzusetzen. Er muss die Energiepolitik neu aufsetzen, unter Einschluss der Kernkraft und mit einem an die restliche EU angepassten Zielpfad. Er muss Sozialausgaben und Regularien zurückschneiden und dafür mehr in Militär, Infrastruktur und Schulen investieren.
All das würde Zeit kosten, vieles wäre unbeliebt, und der Gegenwind wäre beachtlich. Doch die Alternative – eine Fortsetzung der Politik kurzfristig gedachter Wohltaten für die Wähler – wäre fatal. Worum es geht, sind langfristige Weichenstellungen zum Wohle des Landes. Das ist es, was das bürgerliche Lager in Deutschland nun leisten muss.
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