»Bis zur Wahrheit«: Hast du mit ihm geflirtet?
Die Regisseurin der TV-Produktion (20.11.24, 20.15 Uhr, Das Erste) konfrontiert uns schonungslos mit verbreiteten Stereotypen zu sexualisierter Gewalt und ruft zum Umdenken auf.
von Claudia Christine Wolf
Saralisa Volms Drama erzählt von einer angesehenen Ärztin, deren Leben nach einem Sommerurlaub einstürzt. Martina (Maria Furtwängler) verbringt mit ihrer Familie und einem befreundeten Ehepaar (Margarita Broich und Uwe Preuss) glückliche Tage am Meer. Nach einer ausgelassenen Strandparty wird für Martina das Unvorstellbare zur Realität: Mischa (Damian Hardung), der Sohn ihrer Freunde, vergewaltigt sie.
Zunächst versucht Martina, das Erlebte zu verdrängen: »Du weißt ja, wie schnell ich blaue Flecke kriege, genau wie meine Mama«, sagt sie zu ihrer Freundin, als diese beim Frühstück die deutlich sichtbaren Spuren eines gewaltsamen Handgriffs auf Martinas Oberarm bemerkt. Martina reist vorzeitig ab. Nach und nach entgleitet ihr der Alltag. Unvermittelt brechen traumatische Erinnerungen in Form von Flashbacks über sie ein – ausgelöst durch Umgebungsreize, die sie an die Vergewaltigung erinnern: die Musik im Operationssaal etwa oder das Wasser im Schwimmbad, in dem sie früher regelmäßig ihre Bahnen zog.
Ich habe »Nein« gesagt
Als Martina sich ihrem Mann Andi (Pasquale Aleardi) anvertraut und dieser die befreundete Familie konfrontiert, beginnt Martinas zweites Trauma. Sie ist den Schuldzuweisungen aus ihrem Umfeld ausgesetzt: Hat sie nicht an dem Abend Alkohol getrunken? Mit Mischa geflirtet? Sogar geküsst hat sie ihn – obwohl er viel jünger ist als sie! Trägt sie deshalb nicht zumindest eine Teilschuld? »Wäre ja weiß Gott nicht das erste Mal, dass ihr Andi nicht mehr reicht«, sagt Mischas Vater. »Hast du dich gewehrt?«, fragt seine Mutter. »Ich habe Nein gesagt«, antwortet Martina. Indem die Regisseurin weit verbreitete Vergewaltigungsmythen thematisiert, konfrontiert sie die Zuschauerinnen und Zuschauer mit deren eigenen Stereotypen zu sexualisierter Gewalt und verdeutlicht, wie oft die Verantwortung vom Täter auf das Opfer verlagert wird.
Der Film zeigt die Tat aus der Sicht von Martina: Die Kamera bleibt nah an der Hauptdarstellerin, wechselt jedoch nach der Vergewaltigung in die Vogelperspektive und vermittelt dadurch eindrücklich, was viele Betroffene erleben: das Gefühl, das Geschehene von außen zu beobachten – ein als Dissoziation bezeichneter, psychischer Schutzmechanismus, der es ihnen ermöglicht, das traumatische Erlebnis mental zu überstehen.
»Bis zur Wahrheit« ist ein ergreifendes Drama, das schonungslos die erschütternde Wirklichkeit sexualisierter Gewalt offenlegt und zu einem gesellschaftlichen Umdenken aufruft.
Bis zur Wahrheit (Film), Fernsehpremiere am 20.11.24, 20.15 Uhr (Das Erste, dann auch in der Mediathek), Regie: Saralisa Volm, u. a. mit Maria Furtwängler, Margarita Broich und Damian Hardung, Länge: 89 Minuten, Produktion: NDR für Das Erste
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