Bayer Leverkusen darf weiter von der direkten Qualifikation für das Achtelfinale der Champions League träumen. Gegen Inter Mailand dauert es lange, bis sich die entscheidende Lücke auftut.
Bayer Leverkusen schafft in der reformierten Champions League etwas, das noch keiner Mannschaft gelungen ist. Als die BayArena in der kalten Nacht am Rhein langsam in den Gemütszustand von selig grasenden Kühen gefallen war, niemand mehr etwas Großes erwartete, da schlug Nordi Mukiele zu. In der 90. Minute drückte der aufgerückte Verteidiger den Ball gegen Inter Mailand aus kurzer Distanz über die Linie. Er machte vergessen, dass Bayer keinen klassischen Stürmer einsetzen konnte und erledigte die Dinge in bester Manier der Abwesenden. Im sechsten Spiel der Gruppenphase der Königsklasse kassierten die Italiener den ersten Gegentreffer.
Nach einem lange zähen Abend gab’s doch noch das Happy End mit Déjà-vu. Late-Night-Leverkusen war zurück und gewann 1:0 (0:0). Im Kampf um den direkten Achtelfinaleinzug hat Bayer nun beste Karten, ist Zweiter hinter dem FC Liverpool und spielt noch bei Atlético Madrid und gegen Sparta Prag. Ein Sieg könnte bereits reichen.
In der vergangenen Saison hatte die Werkself Fußball-Europa regelmäßig fassungslos gemacht, als in langen Nachspielzeiten Spiele noch drehten, selbst in fast aussichtslosen Lagen. Was waren das für eskalative Nächte gewesen. Von dieser sich über großen Druck aufbauenden Magie schienen sie an diesem Dienstagabend weit entfernt und brachten sie dann doch wieder auf den Rasen. In den Sekunden, bevor dieser kultivierte Wahnsinn wieder einmal losbrach, tänzelte Trainer Xabi Alonso ans Ende seiner Coachingzone. Immer näher kam er dem Geschehen, immer näher der Ball zum Tor. Endlich war mal kein Bein im Weg und Mukiele riss Leverkusen, seine Mitspieler und Alonso mit voller Wucht aus der vorweihnachtlichen Genügsamkeit.
Dr. Alban gibt den Takt vor
Tor: 1:0 Nordi Mukiele (90.)
Leverkusen: Kovar – Tapsoba, Tah, Hincapie – Mukiele, Palacios, Xhaka, Grimaldo (90.+4 Garcia) – Frimpong, Wirtz (90.+4 Andrich), Tella (83. Terrier). – Trainer: Alonso
Mailand: Sommer – Bisseck, de Vrij, Bastoni – Darmian, Frattesi (66. Barella), Calhanoglu (66. Asllani), Zielinski, Augusto (56. Dimarco) – Thuram (66. Martinez), Taremi (85. Arnautovic). – Trainer: Inzaghi
Schiedsrichter: Slavko Vincic (Slowenien)
Gelbe Karten: – Hakan Calhanoglu, Charles August
Zuschauer: 30.210
Als der zähe, aber sehr verdiente Sieg wenig später über die Ziellinie geschleppt worden war, legte der Stadion-DJ den Eurodance-Klassiker “Sing Halleluja” auf. Es ist die wohl trashigste Form, sich für den Beistand des Fußballgottes zu bedanken, der der klar besseren Mannschaft doch noch den verdienten Lohn ausschüttete.
“Natürlich haben wir bis zum Ende dran geglaubt”, sagte Abwehrchef Jonathan Tah. Warum auch nicht? Seine Mannschaft trat mit dem Selbstvertrauen von fünf Siegen aus zuletzt fünf Spielen an. Und Bayer hatte in dieser Partie, je länger sie dauerte, immer weniger zu befürchten. Die Abwehrgiganten von Inter hatten sich früh darauf eingerichtet, mit der eigenen Null etwas Zählbares mitzunehmen. Das war für die Ansehnlichkeit des Spiels keine gute Nachricht.
Womöglich wäre alles ganz anders gelaufen, hätte Bayer Leverkusens Nathan Tella den Ball nach drei Minuten nicht an die Latte geknallt, sondern ins Tor. Das war ein stimmungsvoller Auftakt, brennend heiß flankiert von einer Pyroshow zuvor bei der Busankunft und Seenotrettungsfackeln in der aufziehenden Leverkusener Nacht. Aber dieser Auftakt war eben auch ein falsches Versprechen an dieses Spiel. Denn richtig mitreißend, heiß, gar magisch wurde es danach nur noch einmal.
Wie ein Handballspiel
Bayer Leverkusen baute sich auf wie eine Handballmannschaft. Hatte alle Optionen auf den Außen, in den Halbräumen und dem Rückraum. Aber was ihnen fehlte, war ein echter Shooter. Victor Boniface, der oft bevorzugte Hüne, ist verletzt. Sein zuletzt sehr formstarker Ersatzmann Patrik Schick war so angeschlagen, dass er nicht eingesetzt wurde. Trainer Alonso wollte kein Risiko eingehen. Zu wichtig sind die nächsten Wochen für die weitere Titeljagd, zu ausgedünnt das eigene Offensivpersonal.
Hätte der Tscheche irgendwie gekonnt, Alonso hätte ihn sicher gebracht. Denn gegen dieses Abwehrkollektiv aus Mailand tat ein Mann im Zentrum Not, der nicht über die Tiefe und geniale Momente angespielt werden konnte, sondern einfach mal mit einem hohen Ball. Aber gegen die groß gewachsenen Stefan de Vrij, Alessandro Bastoni und den deutschen Überraschungsmann Yann Bisseck war das Mittel der Flanke auf die schwimmenden Stürmer Florian Wirtz und Nathan Tella sowie den schnellen, oft einrückenden Jeremie Frimpong eine “Mission impossible”.
Bayer zog zwar ein dominantes Spiel auf, war extrem aggressiv gegen den Ball und hoch konzentriert bei der Restverteidigung, schoss aber nach Tellas Lattentreffer vornehmlich aus der Distanz. Das wurde für Inter-Torhüter Yann Sommer selten existenziell gefährlich. Alejandro Grimaldo und Granit Xhaka versuchten sich, machten es dem Torwart aber nicht übertrieben schwer. Exequiel Palacios verzog knapp über die Latte. Inter beschränkte sich im Spiel nach vorne auf wenige Momente mit Blitzberührungsfußball. Meist war Hakan Çalhanoğlu beteiligt und Marcus Thuram, aber etwas Gefährliches kreierten sie nicht.
Die fast perfekte Verteidigungsarbeit
Sie verteidigten lieber in einer beeindruckenden Organisation. Auch wenn Bisseck nicht zufrieden war mit der Art wie sein Team vorging. “Irgendwann musste es passieren, dass wir mal ein Gegentor bekommen. Das ist maximal unglücklich. Wir haben nicht ganz unser Spiel aufgezogen bekommen. Die Leverkusener haben den Ball schon gut laufen lassen, das ist defensiv enorme Arbeit. Wir haben es manchmal zu passiv gespielt.”
Xhaka befand später, Inter könne dieses zermürbende und einen Gegner brechende Spiel wohl über Tage durchhalten. “Es war ein Spiel, bei dem man sehr viel Geduld haben musste”, erklärte der erleichterte Schweizer. “Wenn man nicht geduldig bleibt, kann es gefährlich werden.” Die Mailänder waren bislang in dieser Königsklassen-Saison ohne Gegentor geblieben, was aber eine erstaunliche Wahrheit verheimlicht. Denn vor dem Duell mit Bayer gewährten sie ihren Gegnern bereits 80 Torschüsse, damit liegen sie im unteren Viertel des Teilnehmerfelds. Die Abwehrkunst war also auch eine Torwartkunst, denn Sommer ist in starker Form.
Nach der Pause wurde es noch einseitiger. Bayer lief an, suchte Lücken, fand keine. Inter mauerte, nahm Thuram raus (66.) und brachte den völlig überspielten Topstar Lautaro Martinez. Damit war das Thema Gefahr für Bayer ad acta gelegt. Das Spiel verlor sich in der Zähigkeit eines völlig überbratenen Stücks Fleisch. De Vrij hielt einmal an der Mittellinie 15 Sekunden den Ball am Fuß, Druck bekam er nicht, eine Idee hatte er ebenfalls nicht. Er spielte zurück zum Torwart. Das Geschehen auf dem Rasen hatte endgültig die Dynamik von träge grasenden Kühen erreicht. Bayer suchte in ruhigster Gangart eine Lösung, schoss manchmal in die Arme von Sommer. Die Fans besangen die vergangene Meisterschaft und hatten ihren Frieden mit der scheinbaren Aussichtslosigkeit auf einen Torerfolg gemacht.
Alonso hatte aber noch einen Plan, wechselte Martin Terrier ein, der in der 90. Minute den Ball nach Vorlage von Wirtz und Grimaldo zu Mukiele brachte, Tor, Eskalation, Magie. Volle Wucht.
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