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Karin Keller-Sutter muss sich neu erfinden

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Kann sie ihre Fehde mit Amherd beenden? Keller Sutter muss den Bundesrat wieder befrieden

Finanzministerin Karin Keller-Sutter ist die mächtigste Politikerin des Landes. Darin sind sich alle einig – ausser Viola Amherd. Am Mittwoch wird die Ostschweizerin zur Bundespräsidentin gewählt.

Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Die Finanzministerin über Steuervorteile in der 2. und 3. Säule, das Sparprogramm etc.

Bild: Andrea Zahler / CH Media

Wahrscheinlich wird es frostig am 31. Dezember, wenn Viola Amherd ihrer Regierungskollegin Karin Keller-Sutter offiziell den Stab weitergibt. Ab Anfang Jahr ist Keller-Sutter Bundespräsidentin und löst damit Amherd ab. Das Verhältnis zwischen den beiden Bundesrätinnen ist belastet. Um das zu erkennen, braucht man kein Insiderwissen. Es genügt, Zeitungen zu lesen.

Keller-Sutter will sparen, Amherd aufrüsten: Natürlich geht es ums Geld. Aber nicht nur: Am Anfang des Konflikts steht ein Wortbruch Amherds – und ein Sololauf ausserhalb des Kollegialitätsprinzips.

Als Keller-Sutter Anfang 2023 das Finanzdepartement übernimmt, einigen sich die beiden Bundesrätinnen darauf, dass die Armeeausgaben steigen sollen, aber nicht so rasch, wie es das Parlament ursprünglich gefordert hatte. Das 1-Prozent-BIP-Ziel soll erst 2035 erreicht werden und nicht schon 2030. Amherd trägt diesen Entscheid im Bundesrat mit.

Doch die gewiefte Politikerin findet Wege und Mittel, um die Öffentlichkeit wissen zu lassen, dass sie ein schnelleres Wachstum der Armeeausgaben befürwortet. Sie bringt Armeechef Thomas Süssli ins Spiel, der ganz unverblümt mehr Geld fordert. Und im Hintergrund macht sich Amherd für einen 15-Milliarden-Deal für Armee und Ukrainehilfe an der Schuldenbremse vorbei stark.

Das geht so weit, dass sie im Sommer für einen Gastbeitrag in den Tamedia-Zeitungen gleich selbst in die Taste greift. «Wir müssen jetzt in unsere Verteidigung investieren», mahnt sie. «Es braucht nun Prioritätensetzung und ein rasches, entschlossenes und verantwortungsvolles Handeln. Auf dem Spiel steht die Sicherheit der Schweiz und Europas – und somit unsere Zukunft.»

Und noch eine Diskussion über die Schuldenbremse

Bruch des Kollegialitätsprinzips nennt man das in Bundesbern. Und das ausgerechnet durch die Bundespräsidentin, deren Aufgabe es ist, dafür zu sorgen, dass das politisch bunt zusammengesetzte Gremium erfolgreich zusammenarbeitet. Dass das Departements- und Parteidenken überwunden wird. Immer das Landesinteresse vor Augen. So die Theorie.

Auch innerhalb des Bundesrates lässt Amherd nicht locker. Noch vor den Sommerferien verlangt sie einen 10-Milliarden-Sonderfonds für die Armee. Bloss kann sie dem Bundesrat nicht plausibel machen, was sich an der Bedrohungslage seit dem Entscheid vom Januar 2023 geändert hat. Das Gremium schickt sie zum Nachbessern – sie soll ihm das Geschäft nochmals vorlegen. Doch das ist bisher nicht passiert, wie gut unterrichtete Quellen sagen. Stattdessen bringt sie einen nächsten Vertrauten ins Spiel: Mitte-Nationalrat Martin Candinas. Er speist ihre Fonds-Idee in den parlamentarischen Prozess ein – und schifft ab.

Schlechtes politisches Handwerk, sagen sogar Amherd wohlgesinnte Parteikollegen zu dem Manöver.

Anfang November schliesslich nervt Amherd ihre Bundesratskollegen erneut. Sie macht sich als einziges Regierungsmitglied für die Lockerung der Schuldenbremse stark, wie die NZZ berichtet. Dabei hat das Gremium diese Debatte bereits zuvor eingehend geführt und abgelehnt.

Vor allem das Umfeld bürgerlicher Bundesräte zeigt sich ungnädig: Nicht genug mit dem Bruch des Kollegialitätsprinzips und dem Rückkommen auf gefällte Entscheide – auch die Vorbereitung und Leitung der Bundesratssitzungen lasse zu wünschen übrig.

Notwehr der Bundespräsidentin?

Wie immer sind solche Erzählungen politisch gefärbt. Andere verteidigen Amherd. Auch, weil im Bundesrat die Mehrheit aus SVP und FDP den Ton angibt: Keller-Sutter ist inoffizielle Anführerin dieses rechtsbürgerlichen Machtblocks. Sie gebärde sich mitunter als eine Art Ministerpräsidentin, heisst es. Da grenzen Amherds Winkelzüge an Majestätsbeleidigung. Man könnte auch von Notwehr in einer Minderheitsposition sprechen. Was sicher ist: Der Zwist belastet den Bundesrat.

Verbürgt ist, dass sich Bundespräsidentin Viola Amherd im September weigert, zusammen mit Keller-Sutter und Albert Rösti vor die Medien zu treten, um die Eckpunkte des Sparprogramms zu präsentieren, mit dem der Bundeshaushalt um 3 bis 4 Milliarden Franken entlastet werden soll. Schliesslich muss Elisabeth Baume-Schneider das Duo ergänzen. Ein ungewohnter Auftritt: Treten mehrere Bundesräte vor die Medien, ist immer die Bundespräsidentin dabei.

Die bürgerliche Mehrheit weist ihrerseits die aufmüpfige Bundespräsidentin in die Schranken: Sie sagt Ja zu einer Motion, die «ein Zielbild und eine darauf abgestimmte strategische Ausrichtung einer verteidigungsfähigen Armee zu erstellen» verlangt. Wie wenig Amherd davon und von der Kritik hält, es fehle ihr an einer Gesamtstrategie, kann man Anfang Dezember in der NZZ nachlesen. «Die Planung liegt vor, man muss die Papiere nur lesen», sagte die Verteidigungsministerin.

Zwei grosse Lücken in der Bundeskanzlei

Ganz neu ist der Streit zwischen Amherd und Keller-Sutter nicht. Doch 2024 ist das erste Jahr ohne den langjährigen Bundeskanzler Walter Thurnherr. Dieser schaffte es, im Gegensatz zu seinem Nachfolger Viktor Rossi, den Konflikt zu moderieren. Dazu kam der Tod von Vizekanzler und Bundesratssprecher André Simonazzi, der ebenfalls über viel Erfahrung verfügte und länger dabei war als alle amtierenden Bundesräte. Diese doppelte Veränderung in der Bundeskanzlei, der Stabstelle des Bundesrates, hinterlässt grosse Lücken, die bis heute nicht ausgefüllt sind. Ein Regierungsmitglied spricht einmal gar von einer Krise.

Die Frage ist nun, gelingt Keller-Sutter der Rollenwechsel von der informellen Regierungschefin zur Bundespräsidentin, die das grosse Ganze im Blick haben muss?

Vieles spricht dafür.

Hilfst du mir, so helf ich dir

Kaum jemand in diesem Land kann Politik besser als Karin Keller-Sutter. Das geben selbst ihre politischen Widersacher zu. Sie denkt mindestens eine Geländekammer voraus und unterstützt zuweilen auch Vorhaben, die sie nicht gut findet, um Mehrheiten für eigene Geschäfte zu bekommen. Oder wie es SP-Co-Präsident Cédric Wermuth im Magazin der Tamedia-Zeitungen formulierte: Sie sei zwar eine überzeugte Liberale, «aber relativ pragmatisch, wenn es was zu gewinnen gibt».

Das bekannteste Beispiel dafür ist die Einführung einer Überbrückungsrente für ältere Arbeitslose. Für Keller-Sutter war dies eine wichtige Massnahme zur Bekämpfung der Begrenzungsinitiative der SVP, welche eine Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU verlangte. Sie überzeugte die Arbeitgeber, der Beifall der Gewerkschaften war ihr gewiss. Mit diesem Geschäft festigte sie ihren Ruf der Dealmakerin.

Bekannt ist auch: Keller-Sutter arbeitet insbesondere gerne mit jenen zusammen, welche das Handwerk ebenfalls beherrschen. SP-Bundesrat Alain Berset gehörte dazu. Diese Achse funktionierte, weil beide die gleiche Vorstellung von Regieren haben – und wissen, wie man Macht einsetzt. Berset ist für Keller-Sutters Umfeld denn auch der beste Beweis dafür, dass sie Kollegialität und Konkordanz beherrsche. Dass heute der Eindruck bestehe, die Vierer-Mehrheit aus SVP und FDP setze sich immer durch, habe eben auch mit der Schwäche der Bundesräte von Mitte und SP zu tun.

Das Parteibuch und die Bundesratsgarderobe

Kürzlich sagte Karin Keller-Sutter im Interview mit dieser Zeitung: «Erfolgreiche Bundesrätinnen und Bundesräte geben zwar nicht ihre Überzeugungen, aber das Parteibuch an der Garderobe zum Bundesratszimmer ab.»

In den Gängen des Bundeshauses gibt dieser Satz zu reden. Manche empfinden ihn als frech – als Provokation pur. Denn im gleichen Interview distanzierte sich die Finanzministerin Keller-Sutter von einem Eckwert des Entlastungsprogramms, das dem Bund Mehreinnahmen bescheren soll. Der Kapitalbezug aus der 2. und 3. Säule soll nicht mehr steuerlich bevorteilt werden gegenüber dem Rentenbezug. Keller-Sutter hatte diesen Vorschlag selbst in den Bundesrat eingebracht. Nach einem öffentlichen Aufschrei, ihre Partei lancierte gar eine Petition, legte Keller-Sutter jedoch den Rückwärtsgang ein. Diese Massnahme sei eine Konzession an jene Parteien, die Mehreinnahmen gefordert haben – entspreche aber weder der Überzeugung des Bundesrates noch ihrer persönlichen, sagte sie. Ob und wie der Bundesrat die Massnahme weiterverfolge, entscheide er im Januar. «Es ist etwa auch denkbar, dass auf Änderungen bei der dritten Säule verzichtet wird. Der jetzige Vorschlag ist erst ein Rohstoff.»

Aus dem Eckwert des Bundesrates machte Keller-Sutter flugs einen unverbindlichen Rohstoff. Auch die künftige Bundespräsidentin weiss das Kollegialitätsprinzip zu ritzen. Kritik aus der eigenen Partei prallt nicht gänzlich an ihr ab.

Dennoch ist der Satz mit dem Parteibuch und der Garderobe nicht bloss Koketterie. Zu ihrer Partei geht sie zuweilen offen auf Distanz. Beim schnellen Wachstum der Armeeausgaben etwa. Dieses sei nicht ohne Zusatzeinnahmen zu haben – zumindest die Ständeräte haben dies mittlerweile kapiert. Oder bei der 13. AHV-Rente, wo sie die Linie von Innenministerin Elisabeth Baume-Schneider stützt, dass es für die Zusatzrente Mehreinnahmen braucht – sofort. Die Stimmbevölkerung wollte diesen Sozialausbau, dann soll sie auch die Rechnung bekommen. Die FDP will diese Finanzierung hingegen erst später in einer grossen AHV-Reform regeln.

Eine Unabhängigkeit hat sie sich gegenüber der Wirtschaft bewahrt. Gegen den Widerstand von Economiesuisse und grossen Pharmafirmen setzte sie die Mindestbesteuerung von Grossunternehmen vor Jahresfrist in Kraft. Spannend wird sein, wie Keller-Sutter die Monsterbank UBS künftig regulieren wird. Das Murren von der Zürcher Bahnhofstrasse etwa über starke Eigenmittelanforderungen ist auch in Bern unüberhörbar.

Sie will erfolgreich sein

Der Satz mit dem Parteibuch und der Garderobe ist aber noch aus einem anderen Grund interessant, nämlich wie sie ihn einleitet: «Eine erfolgreiche Bundesrätin …» Keller-Sutter spricht aus, wie sie sich sieht und wie sie in die Geschichte eingehen will. Sie ist ehrgeizig. Anerkennung ist ihr wichtig. Die Zeitungen am Morgen hat sie stets vor ihrem Kommunikationschef gelesen. Sie startet immer mit der «Wiler Zeitung».

Ja, die Ostschweiz. Ihre Herkunft ist Keller-Sutter wichtig. Gerade auch, weil sie mit der Stadt Bern etwas fremdelt. Um das Wesen der Ostschweizer zu charakterisieren, zitierte Keller-Sutter in einem Interview einmal den ehemaligen Ständerat Ernst Rüesch. Böse Zungen würden behaupten, eine Beerdigung in Zürich sei lustiger als eine Hochzeit in St.Gallen. Das habe etwas, sagte Keller-Sutter: «Wir sind nüchtern, bodenständig, pragmatisch und wir rufen nicht gleich nach dem Staat.» Im «wir» schliesst sie sich mit ein.

Keller-Sutter hat in der Vergangenheit bewiesen, dass sie gut in neue Rollen schlüpfen kann. Von der strengen Anti-Hooligan-Sicherheitsdirektorin im Kanton St.Gallen zur Wirtschafts- und Sozialpolitikerin im Ständerat, wo sie als Brückenbauerin zusammen mit Christian Levrat (SP) und Konrad Graber (CVP) Teil des einflussreichen Schattenkabinetts war, über die Justizministerin, die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine beherzt den Schutzstatus S implementierte, hin zur Verteidigerin der Schuldenbremse als Finanzministerin.

Prädestiniert für die internationale Bühne

Was wird Keller-Sutter aus ihrem Präsidialjahr machen? Zunächst will sie wieder Ruhe ins Gremium bringen, die Zusammenarbeit verbessern. Gut regieren halt. Und da ist ihre Stärke auf der internationalen Bühne. «You saved the world», soll ihr ein ausländischer Minister nach der staatlich orchestrierten Notübernahme der Credit Suisse durch die UBS gesagt haben. Die «Financial Times» widmete ihr nicht nur ein grosses Porträt, sondern zählte sie später zu den einflussreichsten Frauen im Jahr 2023 – und noch heute ist sie in ausländischen Medien ein gefragter Interviewgast. Die gelernte Konferenzdolmetscherin wird die Schweiz eloquent auf der internationalen Bühne vertreten.

Und vielleicht schafft ja Bundespräsidentin Keller-Sutter im Inland, was sie sich wohl mindestens so sehr wünscht, wie schwarze Zahlen in der Bundesrechnung: dass das Volk sie nicht nur als kühle Rechnerin wahrnimmt, sondern als nahbare Bundespräsidentin mit einem guten Draht zu den Menschen im ganzen Land. Nicht nur in der Ostschweiz.

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