Asylanträge von Männern aus Maghreb-Staaten werden vom Bund stets schnell abgelehnt. Was treibt sie trotz allem dazu, ihr Glück in der Schweiz zu versuchen? Zeugnisse eines Marokkaners und eines Algeriers.
24.11.2024, 06:5124.11.2024, 06:58
Kari Kälin / ch media
In einem kargen Raum im Bundesasylzentrum in Zürich warten sieben Männer aus Algerien und Marokko. Die Wände bestehen aus Holzplatten, die Stühle aus schwarzem Kunststoff. Diese Asylbewerber haben nahezu keine Chance, den Flüchtlingsstatus zu erhalten.
Ein Mann wartet im Asylzentrum.Bild: KEYSTONE
Seit April wendet das Staatssekretariat für Migration (SEM) „24-Stunden-Verfahren“ für Staatsangehörige aus dem Maghreb (Algerien, Marokko, Tunesien, Libyen) an. An einem Tag sind die Hauptphasen der Behandlung abgeschlossen. Justizminister Beat Jans hofft, die Ausreise zu beschleunigen und andere Kandidaten davon abzuhalten, in der Schweiz Zuflucht zu suchen.
Pünktlich um 13 Uhr betreten vier Männer den Raum, die anderen kommen später. Sie unterhalten sich auf Arabisch, den Blick auf ihr Smartphone gerichtet. Sie scheinen nicht besonders angespannt zu sein. Der SEM-Mitarbeiter warnt sie: Wenn sie am nächsten Morgen zu spät zum Anwaltsgespräch oder zur Anhörung erscheinen, kommen sie ihrer Mitwirkungspflicht nicht nach und ihr Antrag wird hinfällig. Sie macht ihnen folgendes Angebot: 1000 Franken Rückkehrhilfe bei freiwilliger Rückkehr ins Land und ihren Asylantrag ablehnen.
Niemand akzeptiert. Einer von ihnen versucht zu verhandeln:
Vergebens: Wir sind nicht im Souk. Ein anderer Mann erwähnt gesundheitliche Probleme. Das SEM ist klar: Nur die notwendige Pflege wird abgedeckt. Verfallene Zähne? Eher zerrissen als gepflegt.
Angesichts ihrer Bedenken kann man nicht umhin zu denken, dass für solche Antragsteller ein Expressverfahren ausreichend ist. Es ist klar, dass sie nicht aus Gründen politischer oder religiöser Verfolgung geflohen sind. Sie sagen über sich:
„Wir wollen arbeiten und unseren Familien Geld schicken“
Wassim trägt eine Baseballkappe, eine schwarze Sportjacke und darunter ein grünes Fußballtrikot. Er spricht überraschend gut Deutsch. Sein Gang ist geisterhaft, seine Augen sind glasig. Es ist ein offenes Geheimnis, dass das Medikament Pregabalin unter Nordafrikanern weit verbreitet ist. Es wird zur Behandlung von Epilepsie und Angststörungen eingesetzt und ist im Gegensatz zu Alkohol und Drogen im Islam nicht verboten.
Führe ein normales Leben
Vor vier Jahren bestieg Wassim mit etwa 40 Menschen ein Boot, das Libyen Richtung Europa verließ. Nach langem Zögern holte die italienische Marine sie ab und brachte sie nach Sizilien. Wassim beantragte Asyl, verbrachte drei Monate in Neapel bei seinem Onkel und setzte dann seine Reise in Richtung Turin fort, bis er die Grenze zu Frankreich überquerte. Der junge Mann, der die Schule abgebrochen hatte, beantragte daraufhin Asyl in Deutschland. Im Tierheim hat er Angst – weil er schwul ist. Wie aus dem Nichts sagt er:
„Ich bereue, gestohlen zu haben“
Anschließend verbrachte er ein bis zwei Jahre – er selbst ist sich nicht sicher – im Karlsruher Gefängnis. Dort lernte er Deutsch und sammelte Erfahrungen als Bäcker. Wassim ist ein „Dublin-Fall“. Er hat bereits in einem anderen Schengen-Staat Asyl beantragt. Die Schweiz kann ihn daher dorthin zurückschicken. Wassim weiß es, Alle Nordafrikaner wissen es: Sie haben kaum eine Chance auf Asyl. Den Wunsch, in Europa ein „normales Leben“ mit Job und eigenem Wohnort zu führen, gibt er jedoch nicht auf.
Vor wenigen Tagen fuhr der 21-jährige Marokkaner mit dem Zug von Deutschland in die Schweiz. In Zürich wurde er wegen illegalen Aufenthalts verhaftet und verbrachte eine Nacht in Haft, bevor er ins Asylzentrum überstellt wurde. Seine Reise ist typisch: Bootsüberfahrt von Libyen, Asylantrag in Italien, Durchreise durch Frankreich und Deutschland.
Ein normales Leben zu führen, ist auch der Traum von Amar (Name geändert), 26 Jahre alt, ursprünglich aus Algerien. Dieser Elektrotechniker gab 5.000 Euro aus, um mit einem Boot, einem GPS und anderen Migranten nach Ibiza zu gelangen. Die Überfahrt dauert 22 Stunden. Er hatte Angst auf See:
„Es war schwer, mein Bruder, sehr schwer“
Das meiste Geld kam von seiner Familie. Und nun möchte er ihr etwas zurückgeben. Er blieb einige Zeit in Barcelona, dann etwa zwei Jahre in verschiedenen Städten Frankreichs. Durch Schwarzarbeit, beispielsweise bei Obst- und Gemüsehändlern, verdiente er 60 bis 80 Euro pro Tag.
In Paris zahlt er 200 Euro im Monat für ein Zimmer. „Ich bin hierher gekommen, um meine Familie zu retten“, sagt Amar. Doch sein Asylantrag hat kaum Aussicht auf Erfolg.
Die Migrationsgeschichten von Wassim und Amar sind klassisch. Es ist vor allem die wirtschaftliche Misere in ihrem Land, die sie nach Europa treibt. Laut einer Umfrage von „The Arab Barometer“ treiben 65 % der Menschen im Alter von 16 bis 30 Jahren in Algerien, Ägypten, Irak, Jemen, Jordanien, Libanon, Libyen, Marokko, Palästina, Sudan, in Syrien und Tunesien Auswanderungsprojekte voran.
Frustration und Verzweiflung
Beat Stauffer ist Schriftsteller und Journalist. Seit über 40 Jahren reist er in die Maghreb-Staaten. Sein Buch Die Sackgasse der irreguläre Migration (Hrsg.: The Sackgasse der irregulären Migration, nicht übersetzt) wurde vor wenigen Tagen veröffentlicht. Die Umfrageergebnisse überraschen ihn nicht. Die wirtschaftliche Lage habe sich seit dem Arabischen Frühling verschlechtert, wie er erklärt. Und die Arbeitslosigkeit unter den 30-Jährigen ist sehr hoch.
Mit Verzweiflung und Frustration erklärt Beat Stauffer, dass so viele Männer, vor allem junge Menschen, sich bereit erklären, unter Lebensgefahr das Mittelmeer zu überqueren, obwohl die Chance auf einen regulären Aufenthalt in Europa praktisch nicht gegeben ist.
„Diese Menschen erwarten nichts mehr von ihrem Herkunftsland. Dort haben sie wenig Perspektive.“
Die überwiegende Mehrheit der Asylbewerber aus dem Maghreb, wie Wassim und Amar, gibt offen zu, dass sie nach Europa gekommen sind, weil sie in ihrer Heimat keine zufriedenstellende Zukunft sahen. Andere führen Gründe an, die zu einem Asylantrag führen können. Ihre Familie wird wegen der politischen Äußerungen ihres Vaters verfolgt oder sie hatten selbst Beziehungen zu einem Mädchen und werden nun von deren Familie mit Repressalien bedroht. Andere sagen, sie versuchten, einer Bestrafung wegen Fahrerflucht nach einem Verkehrsunfall zu entgehen oder sogar der Belästigung durch Mafia-Organisationen zu entgehen. Diese Geschichten haben einen gemeinsamen Nenner: Sie sind schwer zu überprüfen.
Geheimhaltung
Das Staatssekretariat für Migration erkennt Nordafrikaner nur sehr selten als Flüchtlinge an. Bis Ende September registrierte das SEM rund 3000 Asylanträge aus Algerien, Marokko und Tunesien. Im gleichen Zeitraum erhielten nur fünf Menschen aus diesen Ländern Asyl. Fast 2.000 Menschen tauchten nach einem negativen Bescheid unter, Etwas mehr als 500 wurden in einen „Dublin-Staat“ oder in ihr Herkunftsland zurückgeschickt. 276 weitere kehrten freiwillig zurück – mit 1000 Franken Ausreisehilfe im Gepäck.
Die 24-Stunden-Prozeduren sollen eine abschreckende Wirkung haben. Bundesrat Beat Jans spricht von einem Erfolg Schweiz am Wochenende:
„Dadurch konnte die Zahl der Übernachtungen von Menschen aus Maghreb-Staaten um 40 % reduziert werden. Dadurch wird das Personal entlastet und zudem konnte die Sicherheitslage in den Unterbringungszentren deutlich verbessert werden.“
Das Problem ist, dass die Zahl der Asylanträge von Algeriern, Marokkanern und Tunesiern nur geringfügig unter der des Vorjahres liegt – und das, obwohl Italien bis Ende Oktober fast dreimal weniger Migranten als im Vorjahr verzeichnete. Der Hintergrund: Die Europäische Union und Italien zahlen Millionen an Tunesien, damit der Staat die Migration eindämmen kann.
Und Wassim und Amar? Sie können nicht in der Schweiz bleiben. Auch eine Rückkehr in ihr Herkunftsland ist für sie keine Option. Beide wollen woanders in Europa zurechtkommen, vielleicht in Belgien oder Deutschland.
Für den Bund handelt es sich um einfache Fälle: Dublin-Fälle können relativ schnell übertragen werden, wenn anhand von Fingerabdrücken die Zuständigkeit des anderen Staates festgestellt wird. Die Rückführung in das Herkunftsland ist komplizierter, insbesondere nach Algerien und Marokko.
Meistens vernichten Bewerber ihre Ausweisdokumente. Dies führt zu langwierigen Ermittlungen: Es kann ewig dauern, bis ein Herkunftsland seine Bürger anerkennt und dann die notwendigen Reisedokumente ausstellt. Im Jahr 2023 vergingen durchschnittlich 369 Tage, bis das SEM diese „Pässe“ erhalten konnte. Die Kosten dieser Operation sind hoch: Im vergangenen Jahr kostete der Bereich Asyl und Rückführung den Bund 229 Millionen Franken.
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Aus dem Deutschen übersetzt und adaptiert von Tanja Maeder