INTERVIEW – Für den Historiker Laurent Bihl hat sich der Kampf der Karikaturisten nun geändert: Sie müssen nun gegen die Gleichgültigkeit der Umgebung kämpfen und nicht mehr gegen die gesetzgeberische Zensur.
Zehn Jahre nach der Ermordung von Charlie Hebdoder Kampf der Karikaturisten hat sich verändert: Sie müssen jetzt gegen die Gleichgültigkeit der Umgebung kämpfen und nicht mehr gegen die gesetzgeberische Zensur, stellt Laurent Bihl, Spezialist für Satire an der Universität Paris I Panthéon Sorbonne, gegenüber AFP fest.
Gibt es ein Vorher und Nachher dem Angriff? Charlie Hebdo ?
Laurent BIHL. – Ja, und dieses Vorher/Nachher wird durch die Samuel-Paty-Affäre fünf Jahre später noch vertieft. Die Angst ist offensichtlich. Doch heute ist es nicht mehr eine Verschärfung des Gesetzes, die zur Selbstzensur der Karikaturisten führt. Der Druck entsteht durch punktuelle Rachsucht in sozialen Netzwerken und die terroristische Bedrohung, nicht nur in Frankreich. Seit 2015 werden Räume nicht mehr geöffnet, sondern geschlossen. DER New York Times kündigte an, die Veröffentlichung von Satiren am 1. Juli 2019 einzustellen. „Les Guignols de l’info“ (Canal+-Sendung) verschwand im Juni 2018, drei Jahre nach Charlie, ohne dass jemand dies in Frage stellte.
Wie können wir diese Gleichgültigkeit und die Tatsache erklären, dass bestimmte Zeichnungen heute schockierender sind?
Zeichnen ist eine scheinbar einfache Ausdrucksweise, doch ihre Rezeption ist äußerst komplex. Der Designer hat sein Motiv nie vollständig unter Kontrolle. Als das satirische Bild im Zeitalter der Zeitungskioske und nach dem Gesetz vom 29. Juli 1881 (über die Pressefreiheit) erschien, war das ein Schock. Macht und Tugendbündnisse üben moralischen und rechtlichen Druck auf Karikaturisten aus.
Diesen Schock erleben wir erneut mit der Explosion der sozialen Netzwerke. Wie der Schweizer Designer Chappatte sagt: „ Das Design ist lokal und das Bild ist global “. Eine satirische Zeitung wird von jemandem gekauft, der diese Art von Humor versteht. Aber über das Internet tausende Kilometer entfernt transportiert, ist der Schock zwangsläufig ein anderer. Und das sind oft Orte, an denen eine lokale satirische Produktion unmöglich ist.
Gibt es in unserer zunehmend säkularisierten Zeit weniger Toleranz gegenüber der Karikatur von Religionen?
-Die Idee der Toleranz selbst hat sich weiterentwickelt. In der Vergangenheit hatte die Achtung des Allgemeininteresses zu einer Idee der Meinungsfreiheit geführt, bei der man fast alles sagen konnte, um genau zu zeigen, dass nichts heilig war, auch wenn gesetzliche Regeln bestehen blieben. Heute respektieren wir nicht mehr ein Prinzip, sondern unseren Nächsten. Die Gegner der Karikatur verstehen nicht, dass die Kultur des Lachens zwangsläufig dazu führt, dass man mit dem Nächsten lacht und nicht über ihn. Beim Gegenteil und der Prohibitionskultur hingegen prangern wir es am Ende anonym im Internet an.
Der Angriff auf signierte Karikaturen führt zu einem Tsunami manipulierter oder nicht signierter Bilder auf diesem Mülleimer unseres kollektiven Unbewussten, zu dem das Internet geworden ist. Das Schöne an der Karikatur ist, dass sie unverhüllt zum Vorschein kommt.
Lachen, eine politische Waffe, kann auch im Dienste der Machthaber stehen …
Das ist offensichtlich und die bittere Erinnerung an antisemitische Kampagnen oder der in die Kolonialkultur vergangener Zeiten eingeschriebene Humor erinnern uns daran. Aber nichts rechtfertigt Gewalt. Herrschaftsverhältnisse werden durch Gegenkarikaturen, durch Debatten oder durch rechtliche Schritte bekämpft. Was die Meinungsfreiheit angeht, gibt es auf wirtschaftlicher Ebene ein weiteres Problem, nämlich die Medien, die sehr reichhaltig sind und auf die wir aufgrund ihrer Stärke nicht gleichberechtigt reagieren können. Aber die satirischen Medien, über die wir sprechen, sind wirtschaftlich größtenteils sehr anfällig, und das ist die andere Hauptbedrohung, neben der Terrorismusgefahr, die kleine Titel wie z. B. belastet Siné Hebdo, Fakir, Der Brief an Lulu (Satirische Medien von Nantes)…
Ist die Karikatur ein Anti-Bild?
Eher ein ausgefallener Look. Die Heftigkeit der Linien der Karikaturen, auch der lustigen, macht sie zu eingefrorenen Bildern in dem Moment, in dem die Bilder so schnell aufeinander folgen, dass sie sich gegenseitig aufheben. Es gibt Hunderte von Leichen ertrunkener Kinder wie die des kleinen Aylan Kurdi (ein dreijähriger syrischer Junge, der 2015 tot an einem Strand in der Türkei aufgefunden wurde, Anmerkung der Redaktion), der immer noch an der Schwelle der Fernsehnachrichten steht. Ihn vor einer McDonald’s-Werbung gestrandet zu zeigen, stellt die Frage dar, was diese neuen Schurken zum Gehen zwingt und von wem wir unseren Blick abwenden. Und dass die Zeichnung mehr (oder genauso viel) hätte schockieren können wie das ursprüngliche Foto, stellt ein echtes kollektives Problem dar. Die Karikatur ist ein soziales Auge, ihre Aufgabe besteht darin, die Gleichgültigkeit zu bekämpfen.