Diese 7-jährigen Schweizer sind bereits in der Pubertät

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Diagnose: Pubertas praecox. Dies ist der Fachbegriff für eine zu frühe Pubertät.Bild: Shutterstock

Marco*s Hoden wachsen bereits, obwohl er noch ein Kind ist. Eine vorzeitige Pubertät kommt immer häufiger vor. Familien, die von dieser Diagnose betroffen sind, sagen aus.

Stephanie Schnydrig / ch media

Ines* hatte Schwierigkeiten, ihren eigenen Sohn zu erkennen: Marco* verhielt sich ungewöhnlich stur und trotzig und ging an seine Grenzen. Seine Stimme war heiser, als hätte er eine Dauererkältung, er fing an zu schwitzen und sein Haar war fettig:

„Was mich am meisten faszinierte, war, dass er plötzlich Haare am Körper hatte und seine Genitalien sich verändert hatten.“

Ines*, Mutter von Marco**Die Vornamen der Kinder und Eltern wurden geändert

Alles deutete auf die Pubertät hin. Allerdings war Marco* gerade erst sieben geworden. Wie der Kinderarzt kurz darauf feststellte, waren Marco*s Hoden so groß wie die eines zwölfjährigen Kindes. Diagnose: Pubertas praecox. Dies ist der Fachbegriff für eine zu frühe Pubertät.

Dieses Phänomen tritt auf, wenn sich bei Mädchen vor dem achten Lebensjahr sexuelle Merkmale wie die Brustdrüsen entwickeln und bei Jungen die Hoden vor dem neunten Lebensjahr an Größe zunehmen. Schätzungen zufolge ist eines von 5.000 bis 10.000 Kindern betroffen, wobei Mädchen 5 bis 20 Mal häufiger betroffen sind als Jungen.

Die Wachstumskurve ist der erste Indikator für die frühe Pubertät. Demnach wachsen Jungen in Marcos Alter* pro Jahr um 6 Zentimeter. Bei Marco* waren es in fünf Monaten 5 Zentimeter. Hochgerechnet hätte dies in nur einem Jahr ein Wachstum von 14 Zentimetern ergeben. Röntgenaufnahmen der linken Hand und des Handgelenks zeigten ein beschleunigtes Knochenwachstum, was ein Zeichen für den „pubertären Wachstumsschub“ ist, der durch erhöhte Wachstums- und Sexualhormone ausgelöst wird.

Wofür passiert das?

Ines* stand nach der Diagnose noch unter Schock, als sie bei der Google-Suche erneut einen Schlag bekam, sagt sie:

„Zuerst habe ich gelesen, dass eine frühe Pubertät durch Hirntumoren ausgelöst werden könnte“

Ines*

Für sie und ihre Familie beginnt das stressige Warten auf einen Termin bei Urs Eiholzer, Kinderarzt und Facharzt für pädiatrische Endokrinologie, Leiter des Zentrums für Pädiatrische Endokrinologie (CEPZ) in Zürich, einer wichtigen Anlaufstelle für Familien mit Kindern in der frühen Pubertät. Die jüngste Patientin in ihrer Praxis war gerade zwei Jahre alt, als sie ihre Periode bekam.

Auch bei Marco* bestätigte Eiholzer die Diagnose einer vorzeitigen Pubertät, obwohl ein am Universitätsspital Zürich durchgeführtes MRT das Vorliegen eines Hirntumors glücklicherweise ausschließen konnte. „Mehr als 70 % der Fälle sind idiopathisch“, erklärt der Arzt.

„Es gibt daher keine offensichtliche Ursache für den frühen Beginn der Pubertät“

Urs Eiholzer, Kinderarzt und Facharzt für pädiatrische Endokrinologie

Urs Eiholzer, Kinderarzt und Facharzt für Pädiatrische Endokrinologie, Leiter des Zentrums für Pädiatrische Endokrinologie in Zürich.Bild: Dr

In derselben Woche verschrieb Eiholzer Marco* ein Medikament, Lucrin, einen Pubertätsblocker, der alle drei Monate gespritzt werden sollte. Ines* fühlte sich zunächst in der Falle: „Es musste alles schnell gehen, weil Marco*s Pubertät zu schnell voranschritt.“ Sie steht der traditionellen Medizin eher skeptisch gegenüber und probiert lieber zunächst alternative Methoden aus. Da es in diesem Fall aber keine andere Möglichkeit gibt, entscheidet sie sich für eine Hormontherapie: „Ich wollte nicht riskieren, dass sich mein Sohn mit neun Jahren einen Bart wachsen lässt“, sagt sie.

Jetzt, nach den ersten beiden Injektionen, sind die Auswirkungen bereits spürbar: Marco*s Wachstum hat sich verlangsamt, seine Haare sind nicht mehr fettig, sein Schweiß riecht nicht mehr, die Größe seiner Hoden hat sich sogar etwas verringert.

L’FettleibigkeitHauptfaktor der frühen Pubertät

Das Alter, in dem Mädchen und Jungen die Pubertät erreichen, ist in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen. Dies ist vor allem auf das stetig steigende Körpergewicht zurückzuführen. Tatsächlich „ist Gewicht einer der Haupttreiber der frühen Pubertät“, erklärt Michael Hauschild, Kinderarzt am Chuv und Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie (SSEDP). Denn je mehr Fettgewebe im Körper vorhanden ist, desto mehr Leptin befindet sich im Blut – und dieses Hormon fördert unter anderem die Pubertät.

„In letzter Zeit wird immer mehr Aufmerksamkeit auf Chemikalien gerichtet, die das Hormonsystem beeinflussen“

Michael Hauschild, Kinderarzt in Chuv

Dazu gehören schwer abbaubare Flammschutzmittel, Pestizide, Bisphenol A und PFAS.

Es gibt jedoch keine eindeutigen Beweise dafür, dass diese Substanzen direkt an der Pubertätsentwicklung beteiligt sind: Die Studien zu diesem Thema sind äußerst unterschiedlich, wie eine große Metaanalyse dänischer Forscher aus dem Jahr 2022 zeigt.

„Wir brauchen also definitiv mehr Forschung, um die Gründe klar zu klären.“

Michael Hauschild, Kinderarzt in Chuv

Gleiches gilt für andere Faktoren, die bereits als Ursache für eine frühe Pubertät genannt wurden, wie z. B. die Qualität des Schlafes, den Melatoninspiegel, die längere Zeit, die man vor Bildschirmen verbringt, und blaues Licht.

Mit der durchschnittlich früheren Pubertät werden auch mehr Fälle diagnostiziert. In Dänemark beispielsweise kam es zwischen 2008 und 2014 zu einer fast fünffachen Zunahme bei Mädchen. Und Covid-19 scheint diesen Trend verstärkt zu haben: Während der Pandemie verzeichneten Kliniken beispielsweise in der Türkei, Italien und Deutschland einen Anstieg Steigerung um bis zu 30 %.

Über die Ursachen können wir nur spekulieren. Michael Hauschild schließt aus, dass die Virusinfektion direkt dafür verantwortlich ist. Vielmehr könnten die Begleitumstände der Pandemie schuld sein. So ernährten sich einige Kinder während der Pandemie weniger gesund und bewegten sich weniger. Ergebnis: mehr Übergewicht. Eine weitere Ursache könnte erhöhter Stress während der Pandemie sein, da Stress die Alterung des Körpers beschleunigt. Hauschild mahnt allerdings zur Zurückhaltung bei der Interpretation:

„Es ist durchaus möglich, dass Eltern während der Pandemie aufmerksamer geworden sind und einfach viel früher als zuvor zum Arzt gegangen sind.“

Michael Hauschild, Kinderarzt in Chuv

Oder dass der heute beobachtete Anstieg einfach im Rahmen normaler jährlicher Schwankungen liegt.

Urs Eiholzer stimmt zu: „Eltern sind viel sensibler geworden. Seit der Pandemie bekommen wir deutlich mehr Anfragen, meist weil dem Kind zwei oder drei Schamhaare gewachsen sind. In den allermeisten Fällen handelt es sich hierbei um einen Fehlalarm:

„Körperbehaarung ist kein Zeichen für den Beginn der Pubertät, sondern kann oft auf eine verbesserte Funktion der Nebennierenrinde zurückgeführt werden.“

Urs Eiholzer, Kinderarzt und Facharzt für pädiatrische Endokrinologie

Diese können neben Cortisol auch schwache männliche Sexualhormone produzieren, die nicht behandelt werden sollten. In der Schweiz scheinen die Fälle früher Pubertät während der Pandemie stabil geblieben zu sein. „Es besteht kein Grund zur Sorge“, sagt Hauschild.

Die Pubertät begann im Alter von sieben JahrenSteinzeit

Der Rückgang des Pubertätsalters wird auch aus evolutionärer Sicht relativiert, wie 2006 von Peter Gluckman und Mark Hanson, Evolutionsbiologen aus Neuseeland und England, vorgeschlagen. Ihnen zufolge begannen die ersten Perioden von Mädchen in Jäger- und Sammlergesellschaften, die vor 20.000 Jahren lebten, Schätzungen zufolge im Alter zwischen 7 und 13 Jahren. Dieses Alter stieg während der Agrarrevolution und insbesondere während der industriellen Revolution erheblich an. Im 19. Jahrhundert, als die Lebensbedingungen der Menschen katastrophal waren – schlechte Ernährung, Hygiene und Gesundheit –, bekamen Mädchen ihre Periode erst im Alter von 16 oder 17 Jahren.

Aus evolutionärer Sicht ist es daher nicht ungewöhnlich, dass die Pubertät bereits vor dem zehnten Lebensjahr beginnt. Außergewöhnlich ist heute, dass der Beginn der Pubertät, also die biologische Reife, nicht mit der psychosozialen Reife zusammenfällt. Laut Gluckman und Hanson ist dieses Phänomen in der 200.000-jährigen Evolution unserer Spezies beispiellos, wie sie in der Zeitschrift feststellten Trends in Endokrinologie und Stoffwechsel. In prähistorischen Zeiten wurden Mädchen in einem Alter geschlechtsreif, in dem sie in einer viel weniger komplexen Gesellschaft als heute bereits unabhängig leben konnten.

Das Leben mit einem Körper, der zu schnell wächst, kann belastend sein. Studien deuten darauf hin, dass betroffene Kinder häufiger psychische Probleme haben und riskanteres Verhalten an den Tag legen, beispielsweise Drogen oder Alkohol konsumieren. Mädchen leiden tendenziell mehr als Jungen. Einigen Studien zufolge werden sie beispielsweise häufiger Opfer von Belästigungen als ihre Altersgenossen.

Mia* hatte mehr Glück, obwohl der Kinderarzt ihr und ihrer Familie auch dazu riet, ihre verfrühte Pubertät ab ihrem siebten Lebensjahr abklären zu lassen, wie ihr Vater Markus* erzählt:

„Wir bemerkten, dass Mia*s Schweiß anfing, schlecht zu riechen, dass eine ihrer Brüste etwas größer war und dass sie bereits feine Schamhaare hatte.“

Markus*, Vater von Mia*

Auch seine Tochter war oft sehr emotional, was Markus* im Nachhinein als Zeichen des Eintritts in die Pubertät erklärt.

Angriff auf diekörperliche Unversehrtheit

Monatelang besuchte die Familie das PEZZ immer wieder, um Mia zu vermessen und zu untersuchen. Zu Beginn des Jahres waren die Anzeichen klar: „Meine Tochter war immer die Größte in ihrer Klasse, aber plötzlich erlebte sie einen enormen neuen Wachstumsschub“, sagt Markus*. Auf ein Jahr hochgerechnet wäre sie um 10 Zentimeter gewachsen, während in ihrem Alter 6 Zentimeter normal wären. Mia* befand sich also in voller Pubertätsentwicklung. Ihre Brustdrüsen waren deutlich zu tasten und der Bluttest auf Fruchtbarkeitshormone fiel positiv aus.

Markus* sagt, dass Mia* in der Schule nicht wegen ihrer Größe oder ihrer körperlichen Weiterentwicklung gemobbt wird. Im Gegenteil:

„Sie hat viele Freunde und ist sozial gut in die Klasse integriert“

Markus*, Vater von Mia*

Doch er und seine Partnerin waren sich darüber im Klaren, dass Mia* sich schnell unwohl fühlen könnte, wenn ihre Brüste plötzlich wachsen oder die Periode einsetzt – „während sie noch ein paar Jahre Kind bleiben sollte“, erklärt der Vater.

Es war dieser Gedanke, der letztendlich den Beginn der Behandlung mit Lucrin, einem Pubertätsblocker, motivierte. „Es ist ein Glück, dass es ein so wirksames und sicheres Medikament gegen Frühreife gibt“, sagt Markus*. Das achtjährige Mädchen erhielt ihre erste Spritze. „Natürlich stellt die Behandlung einen Angriff auf die körperliche Unversehrtheit meiner Tochter dar“, erklärt der Vater.

„Aber wir sind davon überzeugt, dass das das Beste für Mia* ist“

Markus*, Vater von Mia*

*In diesem Artikel wurden die Vornamen der Kinder und Eltern geändert.

Übersetzt und angepasst von Noëline Flippe

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Video: watson

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