Euronews sprach mit Janusz Bugajski, Senior Fellow der Jamestown Foundation in Washington, um die Situation und Aussichten Zentralasiens im Kontext des russischen Krieges gegen die Ukraine, des Einflusses Chinas und der postamerikanischen Wahlen zu verstehen.
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Euronews: Zentralasien, reich an Öl, Gas und strategischen Mineralien und am Knotenpunkt Eurasiens gelegen, ist ein Gebiet von geopolitischem Interesse für Russland, China und den Westen. Wie könnten US-Wahlen den Einfluss der USA in der Region verändern oder verstärken?
Janusz Bugajski: Erstens kennt das amerikanische und westliche diplomatische Vokabular den Ausdruck „Zone von geopolitischem Interesse“ nicht oder fühlt sich damit zumindest unwohl. Der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew sprach über die Zone staatlicher Interessen Russlands nach dem Russisch-Georgischen Krieg 2008.
Unter der Biden-Regierung ging die US-Hilfe für Zentralasien deutlich zurück, da die Vereinigten Staaten ihre Truppen aus Afghanistan abzogen und die Hilfe in die Ukraine umgeleitet wurde. Der gewählte Präsident Donald D. Trump erkennt die Bedeutung der natürlichen Ressourcen der Region und möchte China und möglicherweise Russland eindämmen. Es liegt im strategischen Interesse der Vereinigten Staaten und der EU, engere Beziehungen mit der Region aufzubauen, auch in den Bereichen Investitionen, Handel, Verkehrsverbindungen und Sicherheitskooperation.
Euronews: Was war die Hauptdynamik in den Beziehungen zwischen Russland und Zentralasien seit 1991? Waren die Beziehungen schon immer konflikthaft oder kooperativ und was zeichnet sie aus?
JB: Die Beziehungen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken waren in den ersten Jahren der Präsidentschaft Jelzins relativ freundschaftlich. Russland konzentrierte sich auf seine innenpolitischen Probleme. Die zentralasiatischen Länder nutzten die Gelegenheit, um ihre Unabhängigkeit zu stärken. Kasachstans erster Präsident, Nursultan Nasarbajew, spielte eine Schlüsselrolle in diesem Nation-Building-Prozess als Führer des flächen- und BIP-größten Staates der Region mit der längsten Grenze zu Russland.
Im Gegensatz zu den drei baltischen Staaten haben die zentralasiatischen Staaten keine neuere Staatsbildungsphase erlebt. Sie mussten drei gleichzeitige Transformationen durchlaufen: politische, wirtschaftliche und internationale. Dazu gehören die Schaffung unabhängiger politischer Institutionen, die frei von der zentralisierten Kontrolle Moskaus sind, Wirtschaftsreformen, die auf die Etablierung von Marktwirtschaften und den Abbau des gescheiterten kommunistischen Modells der zentralen Planung abzielen, sowie die Teilnahme an den internationalen Beziehungen als unabhängige Staaten, die nicht mehr von den Entscheidungen des Kremls abhängig sind. Kasachstan spielte in allen drei Prozessen eine führende Rolle.
Euronews: Welche rechtlichen und diplomatischen Mechanismen verbinden Russland mit Zentralasien? Lässt sich dies nur dem Bereich des postsowjetischen Kolonial- und Kulturerbes zuordnen, oder ist es etwas anderes?
JB: Nach jahrhundertelanger Expansion eroberte das Zarenreich Ende des 19. Jahrhunderts ganz Zentralasien. Das Erbe dieser repressiven Kolonialpolitik bleibt bis heute bestehen, da eine neue Generation von Kasachen, Usbeken und anderen Völkern ihre nationale Identität und Geschichte wiederentdeckt. Die Rolle nationaler Führer wie Nasarbajew und Karimow bei dieser nationalen Renaissance wird immer noch unzureichend anerkannt. Entgegen den Erwartungen Moskaus unterstützte kein zentralasiatischer Staat offen die russische Invasion in der Ukraine, und der Krieg selbst verstärkte Kasachstans Neubewertung beispielsweise der Sowjetzeit als imperiale Unterdrückung.
Gleichzeitig sind sich die zentralasiatischen Staats- und Regierungschefs bewusst, dass Russland nach wie vor eine der dominierenden Mächte in Eurasien ist und von China, der anderen Großmacht, unterstützt wird. Ein großer Teil ihres Handels erfolgt noch immer mit Moskau. Sie können Russland nicht durch feindselige Aktionen verärgern. Im Gegenteil: Sie müssen eine Politik des Gleichgewichts zwischen Russland, China und dem Westen verfolgen, um ihre Handlungsfreiheit zu wahren. Kasachstan steht seit Jahrzehnten an der Spitze dieser Bewegung, um den jungen Staat zu schützen und seine wirtschaftliche Entwicklung sicherzustellen.
Euronews: Aber heute ist das Gleichgewicht wegen des Krieges in der Ukraine „unausgeglichen“. Wie versucht Russland, seinen Einfluss auf die zentralasiatischen Staaten aufrechtzuerhalten?
JB: Der Krieg gegen die Ukraine hat Russland hinsichtlich seiner militärischen Fähigkeiten und finanziellen Ressourcen erheblich geschwächt. Gleichzeitig kann Moskau mithilfe politischer, informativer und finanzieller Instrumente versuchen, zentralasiatische Regierungen wie Georgien oder Moldawien, die als zu unabhängig oder prowestlich gelten, zu ersetzen. Der effektivste Weg für zentralasiatische Staaten, sich gegen ein solches Szenario zu verteidigen, ist dreigleisig.
Erstens, die Multi-Vektor-Außenpolitik Unter der Führung von Nasarbajew garantiert die Unabhängigkeit Kasachstans einen größeren Einfluss auf die internationale Szene. Zweitens, verstärkte regionale Integration wird die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland oder China verringern. Dritte, engere Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit Europa und den Vereinigten Staaten wird es der transatlantischen Gemeinschaft ermöglichen, sich stärker für die Sicherheit und Unabhängigkeit Zentralasiens zu interessieren. Wichtig sind auch die Beziehungen zur pazifischen Region, einschließlich Japan und Korea.
Die zentralasiatischen Länder können sich nicht damit rühmen, zum Schutz ihrer Sicherheit über einen nuklearen Schutzschirm der NATO zu verfügen. Andererseits können sie dank einer Multi-Vektor-Politik ihre nationalen Interessen besser schützen. Dazu gehört die Vermeidung einer engen Zusammenarbeit mit einem einzelnen Staat und die Zusammenarbeit mit zahlreichen internationalen Organisationen, darunter der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), der Organisation für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa (OSZE), der Organisation Türkischer Staaten (OTS) und der Konferenz für Interaktion und vertrauensbildende Maßnahmen in Asien (CICA).
Es sei darauf hingewiesen, dass Kasachstan gerade seine Weigerung angekündigt hat, den BRICS-Staaten beizutreten.
In diesen Formaten können konstruktive Initiativen umgesetzt werden, die darauf abzielen, Zentralasien durch die Lösung von Grenzproblemen und die Schaffung einer einheitlichen Front gegen den Terrorismus sowie die Förderung der kulturellen Zusammenarbeit und des Umweltschutzes zu stärken. Kasachstan hat auch in das Infrastrukturentwicklungsprogramm Nurly Zhol investiert (auf Englisch).
Euronews: Kasachstan versucht, sich als neues diplomatisches Zentrum, als „Schweiz der Steppen“ zu präsentieren, und besonders bemerkenswert sind seine Vermittlungsversuche im Syrienkonflikt. Kann Zentralasien eine Rolle bei der Beendigung des Krieges in der Ukraine spielen? Und kann sie es zu ihrem Vorteil tun?
JB: So wie Österreich, Finnland und die Schweiz im Kalten Krieg zum Spannungsabbau beigetragen haben, konnten sich die heutigen globalen Antagonisten wie im letzten Jahrhundert in Wien, Helsinki, Genf und Lausanne auf neutralem Boden in Kasachstan treffen. Die zentralasiatischen Staaten wären zwar nicht in der Lage, über ein Ende des Krieges in der Ukraine zu verhandeln, könnten aber einen neutralen Raum für die Erörterung und Lösung kriegsbezogener Fragen bieten, etwa den Austausch von Gefangenen, den Schutz der zivilen Infrastruktur oder die Gewährleistung von Getreideexporten über das Schwarze Meer. Auch die Koordinierung der nuklearen Sicherheit und des Umweltschutzes in verschiedenen Teilen der Welt ist wichtig, und insbesondere Kasachstan möchte eine Plattform für die internationale Zusammenarbeit bieten.
Euronews: Was raten Sie den zentralasiatischen Ländern, um nicht zum nächsten Opfer Russlands zu werden? Spielt China eine Rolle?
JB: Um ihre Unabhängigkeit zu stärken und in einer polarisierten Welt nicht in konkurrierende Blöcke hineingezogen zu werden, müssen die zentralasiatischen Staaten sowohl eine stärkere regionale Integration als auch eine Internationalisierung anstreben. Dadurch werden ihre Wirtschaftskraft, ihr Investitionspotenzial, ihre Sicherheit und ihr internationales Ansehen gestärkt. Eine stärker gefestigte und geeinte Region wird sich besser vor negativen ausländischen Einflüssen schützen können.
Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wurden Versuche einer regionalen Integration unternommen, die jedoch nur begrenzte Wirkung zeigten. Im Jahr 1994 initiierte Präsident Nasarbajew ein Abkommen zur Schaffung einer Zentralasiatischen Union mit Usbekistan, Kirgisistan und Tadschikistan, wobei der Schwerpunkt zunächst auf der wirtschaftlichen Zusammenarbeit lag. Dieses Projekt wurde aufgrund anhaltender Rivalitäten zwischen einigen Staaten, Streitigkeiten über knappe Wasserressourcen, Konkurrenz um externe Investitionen und zunehmender Versuche Pekings und Moskaus, die Region durch strategische Teilungs- und Eroberungsstrategien zu dominieren, abgesagt.
Russlands Eurasische Wirtschaftsunion und Chinas Seidenstraßen-Wirtschaftsgürtelprogramme wurden ins Leben gerufen, um die autonomen und unabhängigen regionalen Initiativen Zentralasiens zu untergraben. Im Jahr 2007 brachte Nasarbajew die Idee einer zentralasiatischen Wirtschaftsunion mit freiem Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr vor. Ziel dieser Union wäre die Stärkung der regionalen Sicherheit, des Wirtschaftswachstums und der politischen Stabilität.
Trotz der Hindernisse wurde das Integrationsprojekt in den letzten Jahren wiederbelebt, insbesondere dank einer deutlichen Verbesserung der Beziehungen zwischen Kasachstan und Usbekistan, den beiden größten Staaten. Neben der Vertiefung der Wirtschaftsbeziehungen haben die beiden Regierungen versucht, drängende regionale Probleme anzugehen, die von Umweltbedenken und Massenmigration bis hin zu grenzüberschreitendem Drogenhandel und Bedrohungen durch Afghanistan und ISIL reichen. Integration wurde auch durch die von den USA geführte B5+1-Initiative gefördert.
Euronews: Persönlichkeiten wie Karimow oder Nasarbajew sind in der Vergangenheit wie in der Gegenwart zu Symbolen postsowjetischer regionaler Stabilität geworden. Eine Reihe neuer politischer Persönlichkeiten ist eher reformorientiert. Was ist ihre Strategie?
JB: Nasarbajew musste drei Transformationen gleichzeitig leiten: den Übergang von der sowjetischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, den Staatsaufbau und den Aufbau von Beziehungen zu internationalen Partnern. Heute beispielsweise reformiert auch Usbekistan unter der Präsidentschaft von Shavkat Mirziyoyev seine Wirtschaft und baut diversifizierte wirtschaftliche und diplomatische Beziehungen auf.
Das Nasarbajew-Modell wird also von anderen Ländern übernommen, weil es funktioniert. Die regionale Integration muss so entwickelt werden, dass das Ganze größer ist als seine Teile, und das ist bereits weitgehend der Fall. Die EU-Länder wollen, dass Zentralasien einen gemeinsamen Markt mit 82 Millionen Verbrauchern hat.
Dies würde die Souveränität jedes Staates stärken, den intraregionalen Handel und die Investitionen steigern und der Region auf der globalen Bühne eine klarere Identität verleihen. Wenn der Krieg in der Ukraine seinen Höhepunkt erreicht, stehen die zentralasiatischen Staaten vor einer großen Herausforderung: Sie müssen entweder die regionale Integration und die globale politische und wirtschaftliche Interaktion stärken oder zu peripheren Akteuren werden, die zunehmend in den expandierenden russischen oder chinesischen imperialen Teppich verflochten sind.
Janusz Bugajski ist Senior Fellow der Jamestown Foundation in Washington, D.C. und Autor zweier neuer Bücher: Entscheidendes Polen: Europas aufstrebende Macht etFailed State: Ein Leitfaden zum Bruch Russlands.*