Wirtschaftskrise in Deutschland: Wer ist schuld?

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Volkswagen-Arbeiter demonstrieren gegen die Schließung ihres Wolfsburger Werks. 21. November 2024 Bild: DPA

Lange Zeit die Industrielokomotive Europas, steht die Bundesrepublik Deutschland heute vor einem tiefgreifenden Strukturwandel. Für die Schweiz sind das keine guten Nachrichten, aber die Krise bietet auch eine Chance.

Hansjörg Friedrich Müller, Berlin / ch media

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Ob in der Automobilindustrie, im Maschinenbau oder in der Chemie: In Deutschland vergeht kaum ein Tag, an dem nicht von Insolvenzen, Entlassungen oder Fabrikschließungen die Rede ist. Die Wirtschaft des Nachbarlandes befindet sich in einer Krise, die sich von früheren Schwächephasen unterscheidet, denn sie wird nicht einfach von alleine verschwinden. Im Gegenteil, ein Strukturwandel ist im Gangeein Wandel, der Europas größte Wirtschaftsmacht grundlegend verändert. „Deindustrialisierung“ ist heutzutage das Trendwort bei unseren Nachbarn.

Anders als in den 1990er Jahren, als Deutschland als „kranker Mann Europas“ galt, ist die Arbeitslosenquote niedrig. Gleichzeitig führt die niedrige Geburtenrate vielerorts zu einem Arbeitskräftemangel. Neue Arbeitsplätze entstehen aber vor allem im Pflegebereich, im Gesundheitswesen oder im öffentlichen Dienst, also staatsnahen Branchen. In der Industrie gehen jeden Monat 7.000 Arbeitsplätze verloren; In diesem Sektor sind bereits weniger als 20 % der Erwerbsbevölkerung beschäftigt.

Die Krise begann nicht mit die „Ampel“

Die gesellschaftlichen Folgen seien mancherorts bereits dramatisch: „Deutschland hat eine Industriestruktur wie die Schweiz“: Alles sei weitgehend miteinander verflochten, erklärt Jens Südekum, Professor für politische Ökonomie in Düsseldorf.

„Wenn ein Automobilzulieferer verschwindet, kann sich in einer mittelgroßen Stadt alles sehr schnell verschlechtern“

Jens Südekum, Professor für politische Ökonomie

Jens Südekum, Professor für politische Ökonomieimago

Die These, dass die „Ampel“, die fragmentierte deutsche Regierung aus SPD, Grünen und FDP, für die Krise verantwortlich sei, ist eine beliebte These.

Was ist die Ampel?

Das ist das in Berlin sitzende Regierungstrio bestehend aus der Sozialdemokratischen Partei (SPD) in Rot, der Freien Demokratischen Partei (FDP) in Gelb und Bündnis 90/Die Grünen in Grün.

Doch bereits seit 2017 ist die Industrieproduktion rückläufig. Jens Südekum spricht von tiefgreifenden Umbrüchen:

„Im Bereich Elektroautos könnten die Chinesen bereits die Hälfte des weltweiten Bedarfs decken“

Jens Südekum

Bei Massenprodukten wird Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit nicht wiedererlangen; Was es braucht, sind hohe Qualität und technische Innovationen.

Ökonomen sind sich weitgehend einig, dass die Regierung von Bundeskanzler Scholz mit ihrer „unbeständigen Entwicklung“ (Südekum) vieles noch schlimmer gemacht hat. „Sicherlich hatte die „Ampel“ kaum Zeit, viele Fehler zu machen, da sie mit der Krise infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine beschäftigt war“, erklärt Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts in München. „Aber die Regierung war nicht in der Lage, dem entgegenzuwirken.“

Clemens Fuest.

Clemens Fuest, Präsident des Ifo-Instituts in München.imago

Die Koalition, erklärt Clemens Fuest, hätte beispielsweise den Ausstieg aus der Kernenergie stoppen und damit die Energiepreise senken können. Maßnahmen zur Wiederbelebung des Wachstums seien zwar diskutiert worden, aber mangels Einigkeit zwischen den Koalitionspartnern nicht umgesetzt worden, sagt er.

Die Tatsache, dass Deutschland im Frühjahr 2023 seine letzten drei Atomkraftwerke abgeschaltet hat, hat angesichts der gestiegenen Energiepreise für breite Kritik gesorgt.

„Deutschland ist das einzige Land, das ausschließlich auf erneuerbare Energiequellen setzt“

Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums am Kieler Institut für Weltwirtschaft

Alle anderen Länder fügen mindestens eine konventionelle Quelle hinzu, sagt er.

„Dieser Nachteil lässt sich nicht einfach durch Subventionen ausgleichen, denn der Wirtschaftsstandort Deutschland wird durch diese Energiepolitik generell geschwächt“, sagt Stefan Kooths. Der Präsident des Ifo-Instituts in München, Clemens Fuest, wirft der „Ampel“ Nachlässigkeit vor: „In einem Land, in dem die Sonne nicht viel scheint und der Wind nicht stark weht, wäre es intelligenter gewesen.“ Testen Sie zunächst, ob es funktioniert, ausschließlich auf erneuerbare Energien zu setzen, bevor Sie das alte System abschalten.

Schuldenbremse

Deutschland ist im Ranking der Wirtschaftsstandorte des Managementinstituts IMD in Lausanne zurückgefallen: Vom sechsten Platz im Jahr 2014 stieg es auf den 24. Platz. Die Ursachen sind vielfältig: grassierende Bürokratie, insbesondere auf EU-Ebene. Hinzu kommen Sozialleistungen und Steuern, die schlechte Anreize setzen. „Menschen sind nicht faul, sie sind einfach nicht dumm“, sagt Kooths.

„Für viele lohnt sich die Arbeit nicht“

Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums am Kieler Institut für Weltwirtschaft

Es besteht kein Zweifel, dass Deutschland mehr in seine Infrastruktur investieren sollte: Verspätete Züge und einzustürzende Brücken sind zu Symbolen einer gigantischen Investitionsverzögerung geworden. Die Frage, ob die Schuldenbremse abgeschafft oder gelockert werden soll, um sie zu reduzieren, ist nicht nur in der Politik, sondern auch unter Ökonomen umstritten.

Stefan Kooths

Stefan Koothsepa

Kooths verteidigt das seit 2011 im Grundgesetz verankerte Instrument: „Die Schuldenbremse zwingt uns dazu, Prioritäten zu setzen – und das ist gut so.“ Die Ampelregierung sei gescheitert, weil sie die Ausgabenprioritäten falsch gesetzt habe.

Südekum sieht die Sache etwas anders. Ihm zufolge habe die Schuldenbremse nach der Finanzkrise 2008 Sinn gemacht, doch nun handele es sich um eine problematische Einschränkung, die sicherlich nicht abgeschafft, sondern reformiert werden sollte:

„Allein um die öffentliche Infrastruktur zu modernisieren und Steuersenkungen für die Industrie zu finanzieren, wären vermutlich 70 Milliarden Euro nötig“

Jens Südekum, Professor für politische Ökonomie

Auch dies müsse seiner Meinung nach über Kredite finanziert werden.

Trumpf verdunkelt die Zukunft

Für die Nachbarländer Deutschlands bedeutet das schwache Wachstum nichts Gutes, obwohl die Schweiz zweifellos weiterhin über die Zuwanderung von qualifiziertem Personal freuen kann, wie Kooths sagt. „Aber am Ende leidet auch die Schweiz„, erklärt der Wirtschaftswissenschaftler, zumal die deutsche Exportindustrie seit jeher ein wichtiger Kanal für Lieferanten aus Nachbarländern sei, um den Weltmarkt zu erreichen.

Die Wiederwahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten macht die Zukunft noch düsterer. Tatsächlich kündigte der Republikaner an, dass er die wirtschaftlichen Interessen seines Landes gnadenlos verteidigen werde. Aus dieser Entscheidung könnte es zu Handelskriegen kommen. Wenn Trump seine Ankündigungen wahr macht, könnten die deutschen Exporte in die USA laut einer Studie des Ifo-Instituts um 15 Prozent zurückgehen.

epa10933912 Bundeskanzler Olaf Scholz (3-l) steht während eines Fluges in einem A400M-Airbus vom Regierungsgelände BER hinter einem Soldaten mit Maschinengewehr auf dem Dach eines Buggys des Luftschutzteams.

Bundeskanzler Olaf Scholz nimmt an einer Fähigkeitsdemonstration der Territorialen Dispositionsgruppe auf dem Militärflughafen Köln-Wahn teilBild: EPA POOL

Kooths ist jedoch optimistisch: Anders als im Fall Chinas, wo Trump den Handel als politisches Druckmittel nutzen will und daher bereit sein könnte, mehr zu zahlen, um den Chinesen zu schaden, glaubt er, dass eine gegenseitige Senkung der Zölle zwischen den USA und China möglich sein wird EU ist möglich.

„Vielleicht könnten wir den Amerikanern auch Zugeständnisse machen, indem wir Produkte im militärischen Bereich kaufen“

Stefan Kooths, Leiter des Prognosezentrums am Kieler Institut für Weltwirtschaft

Wenn Trump seine Drohungen wahr macht, könnten deutsche Unternehmen weitere Produktionsstandorte nach Amerika verlagern, um Zöllen zu entgehen. „Sie könnten weiterhin viel Gewinn machen, aber nicht in Deutschland“, erklärt Südekum. Ein Blick auf den deutschen Aktienindex, der in diesen Tagen von Rekord zu Rekord fliegt, zeigt, dass die Gesundheit der Volkswirtschaft und der Unternehmen bereits teilweise entkoppelt sind. An der Börse ist die Krise noch nicht spürbar.

Aus dem Deutschen übersetzt und adaptiert von Léa Krejci

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