Molenbeek, Brüssel (Belgien), Bericht
An einem Oktobermorgen am Brüsseler Kanal ließen die dichten Wolken gelegentlich ein paar Sonnenstrahlen herein, die die roten Ziegelsteine von Tour & Taxis, einem ehemaligen Industriegelände, streichelten. Unter der Erde, in einem alten Keller, in dem einst Waren gelagert wurden, liegt der Geruch von neuem Gummi in der Luft. Die Molembike-Werkstatt, gefüllt mit Fahrrädern aller Größen, Regalen voller Werkzeuge, Ersatzteile und zerlegter Rahmen, erwacht zum Leben.
Acht Frauen ziehen ihre fluoreszierenden gelben Westen an und sind bereit, mit Hirond’Elles in den Sattel zu steigen, einem 2016 ins Leben gerufenen Projekt, das den Frauen von Molenbeek die Möglichkeit geben soll, zu reiten und den öffentlichen Raum zu erobern. Und das nicht einfach so: Hier trägt jedes Fahrrad den Namen einer inspirierenden Frau, von Bell Hooks bis Fatima Mernissi, Figuren des Widerstands und der Emanzipation.
Für viele Teilnehmer ist der Einstieg in den Sattel nicht einfach. In Brüssel, wo der Radsport versucht, einen Platz zu finden, sind es nur 40 % der Radfahrer sind Frauen. « Viele hatten nicht die Möglichkeit, das langsame Treten zu erlernen, oft aus kulturellen oder wirtschaftlichen Gründen »erklärt Delphine Metten, 47, Projektleiterin. « Mädchen werden weniger ermutigt, diese Risiken einzugehen. » Sie selbst wurde nicht mit dem Fahrrad geboren und weiß, wie es ist, die Straße beherrschen zu müssen.
« Meine Eltern konnten es sich nicht leisten, mir ein Fahrrad zu kaufen. »
Sind die Einstellungen vorgenommen, die Helme fest aufgesteckt, begeben sich die Teilnehmer auf eine weitläufige Promenade, eingerahmt von Backstein- und Glasgebäuden. Carine, 44, Beamtin und Mutter von drei Kindern, setzt schüchtern einen Fuß auf ihr Fahrrad. Für sie ist es eine große Herausforderung. Nachdem sie ihre Kindheit im Kongo verbracht hatte, kam sie im Alter von acht Jahren nach Belgien. « Meine Eltern konnten es sich nicht leisten, mir ein Fahrrad zu kaufen. »vertraut sie.
Später, als Teenager, reichten ein unglücklicher Sturz und eine Narbe, um seine Abneigung gegen das Radfahren zu verstärken. « Wenn ich mir das Gesicht zerbreche, keine Fotos, naja ! » Sie scherzt, bevor sie sich auf den Weg macht und versucht, das Gleichgewicht zu halten, indem sie mit den Beinen auf den Boden schlägt, um voranzukommen. Aber dieses Mal ist seine Entschlossenheit klar: « Während Autos und Busse im Stau stecken bleiben, können wir sehen, dass Fahrräder vorankommen ! » Und dann stellt sie sich schon lange Radtouren mit ihren Kindern vor, fernab vom Verkehrslärm.
Isa, eine Freiwillige aus lila Fleece, radelt neben ihm auf ihrem Faltrad. « Schauen Sie weit nach vorne und greifen Sie nicht zu sehr nach dem Lenker »rät sie in beruhigendem Ton. Isa, 62, lernte auch spät im Leben das Reiten. « Als mein Mann 1989 nach seiner Ankunft in Brüssel mit dem Radfahren begann, dachte ich, er sei verrückt ! Ich sah mich bereits als Witwe »erinnert sie sich, während sie sie rollt « R » mit seinem halb portugiesischen, halb belgischen Akzent.
Heute erkundet Isa bedenkenlos die Stadt mit dem Fahrrad und führt andere mit ansteckender Freundlichkeit. « Der Zauber des ersten Mals gefällt mir hier am besten. Wenn eine Frau endlich alleine in die Pedale tritt, springe ich vor Freude noch höher als sie »schwärmt sie. Ihr leichter, tänzerischer Schritt – Brust nach hinten, Beine nach vorne und schwingende Hände – spiegelt diese neue Freiheit wider, die sie anderen zu vermitteln hilft.
Etwas weiter entfernt ist die 34-jährige Laïla sicherer auf ihrem Fahrrad. Ihre Angst vor Autos lähmt sie jedoch noch immer: « Mein Mann sagt immer, ich könne nicht Auto fahren, aber das liegt hauptsächlich daran, dass wir im Auto so wenig Platz haben. » Laïla entdeckte das Projekt dank ihrer Freundin Khadidja, mit der sie Kindern Arabisch beibringt.
« Beim Anfahren schwankt man ein wenig »
Für sie ist das Fahrrad ein Geschenk des Himmels für ihre täglichen Reisen: « Ich möchte die öffentlichen Verkehrsmittel gegen das Radfahren eintauschen, um mich mit meinen beiden Kindern frei bewegen zu können »vertraut sie. « Man schwankt ein wenig beim Anfahren und hört trotzdem zu plötzlich auf, aber es wird kommen »ermutigt Delphine. Und nach und nach steht Laïla auf ihrem Fahrrad auf.
Die Gruppe wird zu einer unverzichtbaren Unterstützung für diese Radfahrlehrlinge. Als Vorbilder dienen die Fortgeschrittensten wie die 60-jährige Renilde, die acht Kilometer zurücklegt, um zur Werkstatt zu gelangen. « Es ist die Energie der Gruppe, die sie trägt »beobachte Delphine.
Gemeinsam überwinden sie ihre Ängste, lernen das Radfahren und trauen sich, sich der Straße zu stellen. Aber es ist ein fragiles Gleichgewicht: Sie müssen genug Selbstvertrauen gewinnen, um eines Tages alleine zu fahren, ohne die Unterstützung des Kollektivs. « Das Ziel besteht letztendlich darin, dass sie zu täglichen Radfahrern werden können. »
In Renildes Lenkrad verbirgt der 54-jährige Lahouarie seinen Ehrgeiz nicht. Nach nur drei Sitzungen, auch wenn sie immer noch viel im Zickzack läuft, sieht sie sich bereits auf der Straße. « Ich wollte schon seit Jahren lernen, aber es gab immer Hindernisse: Kinder, Zeitmangel »sagte sie. « Wir Frauen bleiben zu oft zu Hause »stimme Laïla zu.
Hélène, 33, spricht über ihren unterschiedlichen Weg. Als sie in den 90er Jahren in Charleroi lebte, ließ ihre Mutter sie aus Angst vor der Dutroux-Affäre nie aus dem Haus. « Ich liebe diese Kurse. Ich fühle mich immer wohler »Sie lächelt trotz eines leichten Sturzes. Nach mehreren Monaten des Lernens denkt sie bald darüber nach, den Schritt zu wagen und mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren.
Hirond’Elles versucht, alle Hindernisse zu beseitigen. Für 20 Euro im Jahr können Frauen und ihre Kinder an den Kursen teilnehmen und Fahrräder ausleihen. Die Öffnungszeiten werden angepasst, um möglichst viele Personen unterzubringen.
« Es geht auch um soziale Gerechtigkeit »
Aber wenn es diesen Frauen gelingt, ihre Ängste zu überwinden, tauchen immer noch andere heimtückische Hindernisse auf. Das Fehlen von Radwegen, der dichte Autoverkehr und sogar die Enge der Wohnverhältnisse in Molenbeek, wo die Unterbringung Ihres Fahrrads zu Kopfschmerzen wird.
« Viele sind weitergekommen, aber ihr Fahrrad bleibt auf dem Balkon stecken, auch wenn sie das Glück haben, eines zu haben. »beklagt sie. Delphine möchte daher, dass die öffentliche Politik noch weiter geht: « Wir könnten mehr tun, um das Radfahren von Frauen zu fördern. Es geht auch um soziale Gerechtigkeit. »
Für Brussels Mobility – die Verwaltung der Region Brüssel-Hauptstadt, die für Ausrüstung, Infrastruktur und Reisen zuständig ist – kontaktiert von ReporterDas Hirond’Elles-Projekt stellt eine Initiative dar « wichtig und vorrangig » um das zu kompensieren « Unterrepräsentation schlecht ausgebildeter Frauen unter Radfahrern in der Region ». Sie unterstützt es im Jahr 2024 mit einem Zuschuss von 80.000 Euro.
Rückständige Infrastruktur
Die Verwaltung erkennt das an « Der Mangel an sicherer Infrastruktur bleibt das Haupthindernis für alle Radfahrer, insbesondere in Arbeitervierteln, in denen der Autodruck stark ist ». Um Abhilfe zu schaffen, sind mehrere Entwicklungsprojekte im Gange, wie zum Beispiel die Sanierung des Square Sainctelette, einem von Radfahrern in Molenbeek gefürchteten Ort, sowie Studien zur Sicherung des Boulevard Léopold II und Avenue du Port.
Darüber hinaus will sich Brussels Mobility nach eigenen Angaben auf die Reduzierung des motorisierten Verkehrs in bestimmten Stadtvierteln und die Entwicklung sicherer Abstellmöglichkeiten für Fahrräder konzentrieren, indem in der Nachbarschaft Parkplätze und Boxen eingerichtet werden, die auf lokale Bedürfnisse zugeschnitten sind.
Nach zwei Stunden Anstrengung taucht die Sonne die Promenade in sanfte Wärme. Es ist Zeit zum Dehnen, ein Moment der gemeinsamen Entspannung, bei dem Gelächter ausbricht. Manche wackeln beim Versuch, auf einem Bein zu stehen. « Es ist wie beim Radfahren, man muss es immer wieder versuchen »lächelt Carine, bereit, für die nächste Sitzung wiederzukommen.
Für einige ist das Abenteuer damit noch nicht zu Ende. Hirond’Elles bietet auch Ausflüge in ganz Brüssel und darüber hinaus an. « Wir fuhren ans Meer, nach Ostende und in ein Naturschutzgebiet in der Nähe von Antwerpen »sagt Delphine. Das Autofahren wird dann zu einer Flucht, weit weg von dicht besiedelten und verschmutzten Stadtvierteln, in denen motorisierte Fahrzeuge verkehren. « Ohne die Gruppe hätte ich es nie gewagt »gibt ein dankbarer Teilnehmer zu.
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