Marc Boivin verurteilt Vergewaltiger und bringt die Schweizer zum Lachen

Marc Boivin verurteilt Vergewaltiger und bringt die Schweizer zum Lachen
Marc Boivin verurteilt Vergewaltiger und bringt die Schweizer zum Lachen
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Marc Boivin, Richter und Komiker, in Freiburg, Ende 2024.Bild: Yoshiko Kusano

Ist das vereinbar, sowohl Schauspieler als auch Richter zu sein? Absolut für Marc Boivin. Als Präsident des Kantonsgerichts Freiburg im Jahr 2024 erkundet er die Grenzen des Humors auf der Bühne. Wir haben ihn in seinen beiden Welten kennengelernt.

Julian Spörri / ch media

Ein Heiler streichelt während einer Massage das Gesäß eines Klienten: Er wird wegen unsittlicher Entblößung mit einer Geldstrafe belegt. Ein anderer Mann brennt voller Eifersucht die Wohnung des neuen Liebhabers seiner Ex-Partnerin nieder und wird zu 42 Monaten Gefängnis verurteilt. Ein 50-jähriger Mann wird für 12 Jahre hinter Gitter geschickt, nachdem er seine minderjährige Stieftochter hunderte Male sexuell missbraucht hat.

Wenn wir an das Justizsystem denken, kommen uns diese Fälle in den Sinn – menschliche Abgründe, in denen sich Täter und Opfer überschneiden. Die Richter bleiben oft unzugänglich und beschränken sich darauf, ihre Entscheidungen seriös zu verkünden.

Deshalb ist es überraschend zu entdecken, dass Marc Boivin, der für einige dieser Urteile verantwortlich ist, nicht nur Richter, sondern auch Schauspieler ist. Präsident des Kantonsgerichts Freiburg, Auch auf der Bühne, im Radio und in der satirischen Zeitung Vigousse bringt er die Romandie zum Lachen.

Ein erster Witz nach zwei Minuten

Mit 52 Jahren lebt Marc Boivin in zwei scheinbar gegensätzlichen Welten. Aber er behauptet:

„Der Beruf des Richters und der des Schauspielers haben mehr gemeinsam, als man denkt“

Bekleidet mit einem schlichten T-Shirt, einer dunklen Jacke und Jeans führt er uns durch ein altes Gebäude in der Altstadt von Freiburg. Sein erster Witz lässt nicht lange auf sich warten:

„Kümmern Sie sich um Ihre Angelegenheiten, wir haben heute einen Kleptomanen auf der Tagesordnung“

Szenenwechsel: An diesem Abend wohnten im Kulturtheater La Tour Vagabonde in Freiburg rund 50 Zuschauer der Aufzeichnung der Comedy-Show Les Dicoders bei. Ausgestrahlt von RTSDiese 55-minütige Show kombiniert Sketche und humorvolle Dialoge. Marc Boivin singt in Begleitung von drei weiteren Schauspielern – mit dem Spitznamen „Dicoders“ – eine Parodieversion des italienischen Hits Vielleicht liegt es daran, dass ich dich liebe.

Der heutige Gast, Alt-Bundesrat Joseph Deiss, versucht, die wahren Worte von den falschen Übersetzungen zu trennen. Abends nimmt er an verschiedenen humorvollen Spielen teilals würde man die Bedeutung des Wortes „Chionospherophilie“ erraten. Boivin überzeugt ihn scherzhaft davon, dass es sich um eine Störung handelt, bei der Kinder den Plastikinhalt von Kinder-Eiern essen, obwohl es sich in Wirklichkeit um eine Leidenschaft für Schneebälle handelt.

Ein neckender Student, der sich mit Bundesberatern anfreundete

In einem anderen Spiel stellt Boivin Trickfragen. „Beat Jans wurde kürzlich auf der Straße erkannt. Wahr oder falsch?“ Die Antwort: stimmt. Der Bundesrat sah offenbar sein eigenes Spiegelbild in einem Fenster.

Joseph Deiss tappt in alle humorvollen Fallen Boivins. „Du hast den neckischen Geist bewahrt, den du schon als Student hattest“, bemerkt er. Joseph Deiss spricht mit Sachkenntnis: Den Humoristen hatte er als Student an der Universität Freiburg richten lassen.

Marc Boivin wurde in Basel geboren und verbrachte den größten Teil seines Lebens, einschließlich seiner Schulzeit, in Freiburg. Ein Jahr lang teilte er die Schule mit Alain Berset, dem heutigen Generalsekretär des Europarats. Die beiden Männer sind Freunde geblieben und beide haben ein charakteristisches Accessoire: den Hut. Während Berset Borsalino bevorzugt, entscheidet sich Boivin für einen Panama.

Dann trennten sich ihre Wege: Berset ist Sozialist, Boivin Mitglied der PLR. Seit 2003 ist er Teil des Dicoders-Teams und hat drei Bücher sowie einen Comic veröffentlicht. Im Jahr 2016 wurde er ordentlicher Richter am Kantonsgericht, zunächst im Bereich Sozialversicherung, dann im Strafrecht. Im Jahr 2024 wurde er zum Präsidenten des Kantonsgerichts gewählt, eine Premiere für einen Richter, der zu 70 % amtierte.

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Ein von seinesgleichen akzeptiertes Doppelleben

Die Tatsache, dass ein Schauspieler eine Justizinstitution leitet, mag überraschen. Schadet das dem Image der Gerechtigkeit? Nein, sagt der Freiburger Justizdirektor Romain Collaud. „Einige Mitglieder des Bundesgerichts haben ihre Skepsis geäußert“, räumt der PLR-Staatsrat ein. Doch für ihn bringt Marc Boivin frischen Wind in ein als starr und distanziert empfundenes Justizsystem.

Boivin selbst besteht auf der Trennung seiner beiden Berufe. Sein Humor, den er auf der Bühne verfeinert, hilft ihm manchmal bei seiner Arbeit als Richter: „Mir kommt es zugute, dass ich mich in der Kommunikation wohlfühle, insbesondere wenn ich einem Angeklagten ein schwieriges Urteil verkünde.“ Allerdings stellt er klar, dass er niemals Witze über schwerwiegende Fälle macht, etwa wenn es um sexuellen Missbrauch geht. Aber in leichteren Zusammenhängen, etwa wenn ein Anwalt eine Akte fallen lässt, erlaubt er sich einen Witz.

Andererseits sind seine juristischen Angelegenheiten nie die Inspiration für seine Skizzen. Am liebsten macht er sich über politische Themen lustig. Sein Comedian-Kollege Eric Constantin, ebenfalls Dicoder, gibt zu, überrascht zu sein, als er erfuhr, dass Marc Boivin Richter war:

„Zuerst konnte ich mir nicht vorstellen, dass er ein anderes Leben führen würde. Doch durch seine Ausbildung zum Anwalt weiß Marc ganz genau, wie weit er mit seinen Witzen gehen kann.

Eric Constantin

Wo liegen die Grenzen des Humors?

An diesem Abend hatte Marc Boivin keine Angst davor, sensible Themen anzusprechen. Wenn Alt-Bundesrat Joseph Deiss über den Gaza-Konflikt spricht und Ideen zur Lösung dieser Krise vorschlägt, Unser Mann interveniert, indem er die Frage des palästinensischen Staates mit dem Jurakonflikt vergleicht. „Moutier ist unser kleines lokales Jerusalem“er erklärt. Einige finden diesen Vergleich absurd und lustig, während andere erstarrt bleiben und ihr Lachen durch die Schwere des Krieges erstickt wird.

Für die Freiburgerinnen und Freiburger enden die Grenzen des Humors dort, wo Kommentare beleidigend, diffamierend oder zum Hass schüren.

„Jeder Komiker muss sicherstellen, dass sein Witz, egal wie düster er ist, nicht in diese Kategorien fällt.“

Marc Boivin

Allerdings sei er der festen Überzeugung, dass man über alles lachen könne, fügt er hinzu. Was die Angst angeht, in einer von politischer Korrektheit geprägten Zeit an den Pranger gestellt zu werden, wischt er beiseite:

„Der Humor sollte ein wenig schockierend sein. Nur so kann ein Witz zum Nachdenken anregen.

Marc Boivin hat die Idee akzeptiert, dass er als Schauspieler niemals in der Lage sein wird, es allen recht zu machen. „Für einen Richter ist das nicht anders“, schließt er. „Gerichtsurteile gefallen keiner Partei zu 100 %.“

(Übersetzt aus dem Deutschen von Tim Boekholt)

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