Eigentlich stellt der deutsche Bundeskanzler die Vertrauensfrage, um handlungsfähig zu bleiben. Doch einige Kanzler stellten sie, damit der Bundestag sie stürzt und es Neuwahlen gibt.
Am Mittwoch hat der amtierende deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bekanntgegeben, dass er im Januar 2025 dem Bundestag die Vertrauensfrage stellen will. Was das bedeutet, zeigt der Blick in die Geschichte.
Theoretisch ist die Sache mit der Vertrauensfrage ganz einfach: Der Kanzler fragt das Parlament, ob es seine Politik unterstützt. Der Bundestag tritt dann zusammen und stärkt die Position des Kanzlers, spricht ihm sein Vertrauen aus. Oder er stürzt ihn.
Die Väter des Grundgesetzes haben die Vertrauensfrage in die Verfassung geschrieben, damit die amtierende Regierung in einer Krise handlungsfähig bleibt oder von einer neuen abgelöst wird.
Denn wenn ein Kanzler die Abstimmung zur Vertrauensfrage verliert, kann er beim Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages und damit verbunden Neuwahlen beantragen.
In der Geschichte der Bundesrepublik hat sich jedoch gezeigt: Die Vertrauensfrage ist auch ein interessantes Instrument für gewiefte Machtpolitiker. Wenn die Umfragewerte der eigenen Partei günstig stehen, kann die Vertrauensfrage ein nützliches Vehikel sein, um sich im Parlament eine solide Mehrheit und Ruhe zu verschaffen.
Seit der Gründung der Bundesrepublik haben vier Bundeskanzler die Vertrauensfrage gestellt. Einer von ihnen sogar zweimal.
1972 – Willy Brandt und der «Ausverkauf deutscher Interessen»
Zu Beginn der 1970er Jahre bestimmte ein Thema die Politik in der Bundesrepublik massgebend mit: das Verhältnis zum sozialistischen Osten. Die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt wagte damals etwas Neues: Sie setzte auf Annäherung.
In den sogenannten Ostverträgen, welche die Bundesrepublik damals mit der UdSSR und Polen schloss, anerkannte sie die Oder-Neisse-Grenze zu Polen erstmals offiziell. De facto bedeutete das: Die Regierung gab die ehemals deutschen Ostgebiete auf. Die Kritik an Brandt war heftig. Die CDU sprach von einem «Ausverkauf deutscher Interessen».
International hingegen erhielt Brandt viel Zuspruch. Am 7. Dezember 1970 kniete er vor dem Denkmal für die Helden des Warschauer Ghettos. Die Weltöffentlichkeit schaute zu und sah darin eine grosse Geste: Da kniete nicht bloss ein Bundeskanzler, da bat ganz Deutschland um Vergebung für die Schrecken des Nationalsozialismus. Ein Jahr später erhielt Brandt den Friedensnobelpreis.
In der Bundesrepublik allerdings spitzte sich der Konflikt zwischen Regierung und Opposition zu. Der bürgerlich-konservative Flügel der FDP löste sich aus der Koalition mit der SPD. Daraufhin lancierte der CDU-Politiker Rainer Barzel ein konstruktives Misstrauensvotum im Bundestag. Der Versuch, Willy Brandt zu stürzen, scheiterte.
Regierung und Opposition bildeten damals zwei gleich starke, entgegengesetzte Blöcke. Die Opposition stellte sich gegen den Haushaltsplan der Regierung, und diese verfolgte weiterhin eine Annäherung an den Osten. Das Ergebnis war eine Blockade.
Brandt sah einen Ausweg: Am 20. September stellte er dem Bundestag die Vertrauensfrage und verlor. Der Bundeskanzler freute sich über diese Niederlage.
Der Bundespräsident setzte Neuwahlen an. Bei einer rekordhohen Stimmbeteiligung von 91,1 Prozent gewann die SPD mit 45,8 Prozent die Wahlen. Die sozialliberale Koalition verfügte im Bundestag nun über eine solide Mehrheit. Das Kalkül von Willy Brandt ging auf.
1982 zum Ersten – Helmut Schmidt, seine Genossen und die FDP
Brandts Nachfolger, Bundeskanzler Helmut Schmidt, sah sich zu Beginn der 1980er Jahre gleich mit mehreren Krisen konfrontiert: Infolge der islamischen Revolution in Iran stiegen die Rohölpreise in den westlichen Staaten. Zudem brach der Umsatz bei der Stahlindustrie ein, die Exporte der deutschen Wirtschaft sanken ebenfalls. Die fetten Jahre des Wirtschaftswunders waren vorbei. Und geopolitisch hatte sich der Kalte Krieg gefährlich aufgeheizt.
1977 hatte die Sowjetunion ihr Atomwaffenarsenal erneuert. Viele dieser Raketen zielten auf Westdeutschland. Bundeskanzler Schmidt drängte den Westen nachzuziehen. Zwei Jahre später einigten sich die Mitglieder der Nato auf den «Doppelbeschluss». Auch der Westen sollte sein Arsenal modernisieren, ein «Gleichgewicht des Schreckens» den drohenden Atomkrieg verhindern.
Als Reaktion bildete sich in der Bundesrepublik eine Friedensbewegung, die gegen den Nato-Doppelbeschluss und Helmut Schmidt protestierte. Der Höhepunkt: Im Herbst 1981 versammelten sich im Bonner Hofgarten 300 000 Demonstranten.
Der linke Flügel der SPD näherte sich zusehends der Friedensbewegung an und verstärkte den Druck auf seinen Kanzler Helmut Schmidt. Innerhalb der sozialliberalen Koalition verschlechterte sich das Arbeitsklima ebenfalls.
Zudem forderte der FDP-Vorsitzende Hans-Dietrich Genscher als Reaktion auf die wirtschaftliche Lage Kürzungen bei den Sozialleistungen, eine Liberalisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Genscher sprach vom Ende der «Anspruchsmentalität». Die linke SPD-Basis und die Gewerkschaften hielten dagegen. Helmut Schmidt drohte zwischen den Forderungen der FDP und seiner eigenen Partei aufgerieben zu werden. Er wollte für Geschlossenheit innerhalb seiner Partei und der Koalition sorgen und reagierte. Am 5. Februar 1982 stellte er dem Bundestag die Vertrauensfrage.
Zwar gewann Schmidt die Abstimmung, doch die Spannungen mit der FDP intensivierten sich. Schon wenige Monate später, im Herbst 1982, stürzte die CDU mit Stimmen der FDP Bundeskanzler Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum. Sie wählten stattdessen den christlichdemokratischen Helmut Kohl zum neuen Kanzler.
1982 zum Zweiten – Helmut Kohl und die solide Parlamentsmehrheit
Dieser hatte gleich zu Beginn seiner ersten Amtszeit als Bundeskanzler ein Problem: Der Bundestag hatte ihn ohne Neuwahlen gewählt. Die Kräfteverhältnisse im Parlament blieben also so wie unter seinem Vorgänger. Bundeskanzler Kohl fehlte es an Legitimation, nicht aber an Gegnern im Bundestag.
Ähnlich wie Willy Brandt wollte Kohl die Abstimmung zur Vertrauensfrage verlieren, um damit Neuwahlen zu erzwingen. Der Zeitpunkt dafür schien günstig, denn die Umfragen prognostizierten einen deutlichen Wahlsieg von Union und FDP.
Kritiker warfen Kohl allerdings vor, er missbrauche das Instrument der Vertrauensfrage. Die Väter des Grundgesetzes hätten es nicht für machtpolitische Winkelzüge vorgesehen.
Kohl liess sich nicht beirren und erklärte, man befinde sich in der schwersten Wirtschafts- und Finanzkrise seit Bestehen der Bundesrepublik. Die Regierung brauche einen «entschiedenen Wählerauftrag». Der Fall ging bis vor das Bundesverfassungsgericht, das Kohl allerdings im Nachhinein stützte.
Die Abstimmung zur Vertrauensfrage verlor Kohl nach einer vierstündigen Debatte. Er gewann aber die folgenden Neuwahlen am 6. März 1983 klar. Der Aufwand hatte sich gelohnt.
2001 – Gerhard Schröder, das Vertrauen und der Krieg
Es dauerte fast zwanzig Jahre, bis wieder ein Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellte. Am 16. November 2001 trat Bundeskanzler Gerhard Schröder vor den Bundestag, stellte die Vertrauensfrage und verknüpfte sie erstmals in der Geschichte mit einer konkreten Fragestellung.
Kurz nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hatte Schröder der amerikanischen Regierung die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands zugesichert. Nachdem die Uno eine militärische Intervention in Afghanistan gebilligt hatte, beteiligte sich die Bundeswehr an dieser Militäroperation.
Ein Einsatz der Bundeswehr ausserhalb von Nato-Gebiet setzt allerdings die Zustimmung des Bundestages voraus. Das entschied das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil im Jahr 1994.
Ausgerechnet Abgeordnete der rot-grünen Koalition kritisierten Schröder. Weil sie gleichzeitig über die Vertrauensfrage und den Bundeswehreinsatz entscheiden mussten, fühlten sie sich unter Druck gesetzt. Einige sprachen von «Erpressung».
Schröder bezeichnete den Bundeswehreinsatz als eine Zäsur. Er argumentierte, dass er für einen derartigen Entscheid nicht nur eine Parlamentsmehrheit, sondern auch den Rückhalt der Koalition brauche.
Von 662 Abgeordneten stimmten 336 mit Ja, 326 mit Nein.
2005 – Gerhard Schröder verzockt sich
Nur vier Jahre später, im Frühsommer 2005, stellte Schröder die Vertrauensfrage erneut. Die Regierung befand sich wieder in einer Krise.
Ende Mai hatte die Stimmbevölkerung von Nordrhein-Westfalen die letzte rot-grüne Landesregierung abgewählt. Am Abend der Landtagswahl erklärte Schröder, dass er Neuwahlen wolle. Schröder wollte, genau wie Brandt und Kohl vor ihm, die Abstimmung über die Vertrauensfrage verlieren und durch Neuwahlen seine Position im Bundestag stärken.
Mit der Agenda 2010 versuchte Schröder das deutsche Sozialsystem und den Arbeitsmarkt zu reformieren. Dies, weil die Bundesrepublik Anfang des 21. Jahrhunderts zeitweise mehr als 5 Millionen Arbeitslose zählte. Wirtschaftswissenschafter sprachen vom «kranken Mann Europas».
Schröders Reformen trieben Zehntausende auf die Strassen. Insbesondere die Einführung des Arbeitslosengeldes II, besser bekannt als Hartz IV, löste eine Protestwelle aus. In zahlreichen Städten sammelten Menschen sich zu Montagsdemonstrationen und spielten bewusst auf die Proteste am Vorabend des Mauerfalls an, die stets an Montagen stattfanden.
Vertreter beider Regierungsparteien, der SPD und der Grünen, stellten sich öffentlich gegen Schröder. Sie bestritten, dass Schröders Plan, also die Vertrauensfrage kalkuliert zu verlieren, zulässig ist. Wie schon zu Zeiten von Brandt und Kohl taten sie es erfolglos.
Angela Merkel, damals Oppositionsführerin, befürwortete Schröders Plan explizit. Nachdem Schröder die Vertrauensabstimmung und die folgenden Neuwahlen verloren hatte, wurde Merkel zur ersten Bundeskanzlerin gewählt.