Krieg in der Ukraine: Biden übertritt Putins vemeintliche rote Linie

Krieg in der Ukraine: Biden übertritt Putins vemeintliche rote Linie
Krieg in der Ukraine: Biden übertritt Putins vemeintliche rote Linie
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Bereits im Sommer 2022 hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die US-Regierung um die Lieferung präzisionsgelenkter Raketenabwehrsysteme gebeten. Das Army Tactical Missile System, kurz Atacms, sollte Kiew helfen, gegen Russlands Angriffe auf ukrainische Ziele vorzugehen. Etwa durch den präzisen Beschuss von hinter der Frontlinie liegenden russischen Stellungen wie Militärflughäfen oder Munitionslagern.

Joe Biden verwehrte Selenskyj die Bitte monatelang. Kurz vor Ende seiner Amtszeit aber hat der US-Präsident Kiews Appellen nachgegeben. Nach übereinstimmenden Berichten von „New York Times“, „Washington Post“ und AFP hob der Demokrat bislang geltende Beschränkungen für an die Ukraine gelieferte Atacms auf. Das US-Militär hatte bisher Typen mit einer kürzeren Reichweite geliefert. Nun kann Kiew Raketen einsetzen, die bis zu 300 Kilometer weit fliegen und im aktuellen Kriegsverlauf wichtige Vorteile verschaffen können.

Russlands Präsident Wladimir Putin hat wiederholt gewarnt, dass die Freigabe westlicher Waffen zu Angriffen auf russisches Territorium einen „Kriegseintritt“ der Nato bedeute. „Dies würde die Natur des Konflikts in erheblichem Maß verändern“, sagte Putin Mitte September. Biden hatte diesen Schritt dem Vernehmen nach aus Sorge um eine möglicherweise sogar nukleare Eskalation gescheut.

Nun entschied sich der US-Präsident doch dazu. Es gibt dafür mehrere Gründe. Die US-Regierung sieht es als Eskalation russischer Seite, dass Moskau rund zehntausend Soldaten aus Nordkorea zur Unterstützung angeheuert hat. Diese sind mit russischen Truppen in der russischen Grenzregion nahe Kursk im Einsatz. Die Ukrainer hatten die Region im Sommer erobert, drohen sie aber nun auch wegen der nordkoreanischen Verstärkung wieder zu verlieren.

Biden will Kiew zum einen helfen, die Region zu halten, um die Verhandlungsposition der Ukrainer zu verbessern. Zum anderen will er ein klares Warnsignal an Nordkorea senden, Russland nicht weiter zu unterstützen. Der US-Präsident hielt sich am Wochenende beim Apec-Gipfel im peruanischen Lima auf, wo er mit Südkoreas und Japans Regierungschefs zusammentraf, die ein höchste angespanntes Verhältnis zu Nordkorea haben. Nordkoreas Herrscher Kim Jong-un müsse umgehend zu verstehen gegeben werden, dass die Entsendung seiner Soldaten eine „teurer Fehler“ gewesen sei, zitiert die „Washington Post“ einen Regierungsmitarbeiter.

Biden traf in Lima auch Chinas Präsidenten Xi Jinping, mit dem er Russlands Krieg in der Ukraine erörterte und zugleich erneut Kritik an Peking Unterstützung von Putin äußerte. Allerdings ist sich China in einem Punkt mit dem Westen einig: Der Einsatz von Atomwaffen ist eine rote Linie, die auch Xi öffentlich gezogen hat. In Washington ist man daher sicher, dass Putin diesen Schritt nicht wagen wird.

Bidens Schritt ist klar auch innenpolitisch motiviert. Vor den Wahlen hätte die Freigabe der Reichweite Donald Trump ein weiteres Argument geliefert, dass die Demokraten „den Dritten Weltkrieg provozieren“, wie Trump oftmals behauptete. Zum anderen zwingt diese Kurskorrektur Trump nun zu einer Entscheidung an Tag eins seines Amtsantritts: Die Atacsm zurückzunehmen und Kiew damit vor aller Welt und vor allem vor den russischen Angriffen zu schwächen.

Oder aber den Kurs fortzuführen. „Bidens Entscheidung mag am Ende sogar für Trump von Vorteil sein. Trump will nach dem 20. Januar einen schnellen Deal zwischen Moskau und Kiew. Die Freigabe der Raketen ist ein Pfund, mit dem er am Verhandlungstisch wuchern kann“, sagte Paul Stares, Sicherheitsexperte am Council on Foreign Relations, WELT.

Zweifellos kommt mit Bidens Entscheidung erneut der Ruf nach Lieferung von deutschen Taurus-Raketen hoch, die noch weiter reichen als die Atacms. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) lehnt dies bisher kategorisch ab. Allerdings hat der Sozialdemokrat in den vergangenen zwei Kriegsjahren signifikante militärische Hilfe für die Ukraine immer dann freigegeben, wenn die USA ähnliche Schritte taten. Scholz hatte am Freitagnachmittag erstmals seit fast zwei Jahren mit Putin telefoniert und nach eigenen Angaben den Kreml-Chef dabei aufgefordert, „seine Truppen zurückzuziehen“ und sich zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit zu zeigen.

Zu erwarten ist hingegen, dass Großbritannien nun Präzisionsraketen an Kiew liefert. Das hatte die Regierung von Premier Keir Starmer schon seit Monaten geplant, wollte den Schritt aber nicht ohne die US-Regierung tun. Auch die polnische Regierung begrüßt Bidens Entscheidung. Der US-Präsident habe auf die Entsendung nordkoreanischer Truppen nach Russland und die massiven russischen Raketenangriffe am Sonntag „in einer Sprache geantwortet, die (der russische Präsident) Wladimir Putin versteht“, schrieb Polens Außenminister Radoslaw Sikorski im Onlinedienst X. „Das Opfer einer Aggression hat das Recht, sich zu verteidigen“, fügte er hinzu. „Stärke schreckt ab, Schwäche provoziert.“

Selenskyj reagierte zurückhaltender. In einer Videobotschaft verwies er auf die Bedeutung des Einsatzes von Langstreckenwaffen im Verteidigungskrieg gegen Russland. „Heute gibt es viele Medienberichte, dass wir die Erlaubnis erhalten haben, angemessene Maßnahmen zu ergreifen“, sagte er. „Aber Angriffe werden nicht mit Worten ausgeführt. Solche Dinge werden nicht angekündigt. Die Raketen werden für sich selbst sprechen.“

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