Zuerst war es nur ein Rinnsal, doch dann kamen Hunderte von Arbeitern im VW-Werk in Hannover in großen Schwärmen aus Tor 3 und schwenkten Schilder mit der Aufschrift „Wir sind bereit zum Streik!“ und die roten Fahnen der mächtigen deutschen Metallgewerkschaft IG Metall.
Im Werk Hannover produziert VW leichte Nutzfahrzeuge, darunter den elektrischen Kleinbus ID.Buzz von VW, der Nachfolger des legendären „Bulli“ des Unternehmens – kurz für Bus und Lieferwagen auf Deutsch –, der seit 2017 vom Band lief mehr als 65 Jahre her, wird aber mittlerweile in der Türkei produziert.
VW-Beschäftigte in Hannover schließen sich einem Streik an, der fast alle VW-Werke in Deutschland erfasst.
„Für mich ist das Wichtigste, dass sie diesen Produktionsstandort erhalten“, sagt Hassan Savas, der seit 24 Jahren für VW arbeitet und sich nun einer Arbeiterschar auf dem örtlichen Marktplatz anschließt. „Sie sollten die Bonuszahlungen abschaffen. Oliver Blume hat 10,3 Millionen Euro verdient und was bekommen wir?“, sagte er der DW.
Was Hassan Savas so wütend macht, ist die Entscheidung des VW-Managements, darunter CEO Oliver Blume, mehrere VW-Werke in Deutschland zu schließen und Tausende Arbeiter zu entlassen. Der Schritt ist beispiellos in der mehr als 87-jährigen Geschichte des Automobilherstellers und erfolgt, nachdem er Anfang des Jahres eine Arbeitsplatzsicherungsvereinbarung mit den Gewerkschaften gekündigt hatte, die Entlassungen bis 2029 ausgeschlossen hatte.
Moritz, ein Auszubildender im zweiten Lehrjahr des Werks, der nicht möchte, dass sein vollständiger Name veröffentlicht wird, sagt, viele VW-Arbeiter seien „wirklich wütend“.
„Auszubildende sollen mehr Geld bekommen und nach der Ausbildung einen Vertrag bekommen, aber das steht beides auf dem Spiel“, sagte er der DW.
Warum streiken VW-Arbeiter?
Während sich die Arbeiter im VW-Werk in Osnabrück, Deutschland, einen separaten Tarifvertrag gesichert haben und sich nicht am Streik beteiligen, hofft der Rest der VW-Belegschaft in Deutschland immer noch auf einen neuen Tarifvertrag.
In einer jüngsten Runde von Lohnverhandlungen haben VW-Arbeiter angeboten, Kosteneinsparungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro (1,6 Milliarden US-Dollar) zu unterstützen, wenn das Management die Schließung von Werken in Deutschland ausschließt. Sie warnten jedoch davor, dass dem Autohersteller ein historischer Kampf bevorstehen würde, wenn er mit drastischen Kürzungen fortfährt.
Das VW-Management drängt auf Lohnkürzungen von bis zu 10 %, um angesichts sinkender Einnahmen die Kosten zu senken. Europas größter Automobilhersteller will außerdem drei Werke schließen, um der sinkenden Nachfrage, insbesondere nach seinen Elektrofahrzeugen (EVs), Rechnung zu tragen.
Der deutsche Autobauer Volkswagen steht vor einer beispiellosen Krise
Die IG Metall kündigte am Wochenende an, dass am Montag Arbeitskämpfe mit einer Reihe von „Warnstreiks“, also kurzen Arbeitsniederlegungen, beginnen würden, nachdem das Unternehmen letzte Woche die Vorschläge der Gewerkschaft zum Schutz von Arbeitsplätzen abgelehnt hatte.
Der VW-Konzern, dem zehn Marken von Audi und Porsche bis hin zu Skoda und Seat gehören, sagte in einer Erklärung, er „respektiere die Rechte der Arbeitnehmer“ und glaube an einen „konstruktiven Dialog“, um „eine dauerhafte Lösung zu finden, die kollektiv unterstützt wird“. Außerdem hieß es, man habe während der Streikaktion „Maßnahmen ergriffen, um dringende Lieferungen zu gewährleisten“.
Die Tarifverhandlungen sollen am 9. Dezember wieder aufgenommen werden, wobei die in Hannover demonstrierten Arbeiter erklärten, sie würden die Forderungen der Gewerkschaft nach dem „größten Streik, den VW je gesehen hat“ unterstützen.
Warum ist die deutsche Automobilindustrie so wichtig?
Die Streiks bei VW erfolgen zu einem Zeitpunkt, an dem Deutschlands übermächtige Automobilindustrie aufgrund der rückläufigen europäischen Nachfrage und der harten Konkurrenz aus China in einer Krise steckt. Da der Wolfsburger Automobilhersteller Deutschlands größter industrieller Arbeitgeber ist, hat eine Krise bei VW bundesweite Auswirkungen.
Nach Angaben des Bundesverbands der Automobilindustrie waren im Jahr 2023 fast 780.000 Menschen in der deutschen Automobilindustrie beschäftigt, davon mehr als 465.000 in der Zulieferung von Teilen und Ausrüstung für die größten Automobilhersteller, darunter VW, BMW und Mercedes.
Der Anteil der Automobilindustrie am deutschen Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist so groß wie in keinem anderen europäischen Land.
Der Rückgang der deutschen Autoproduktion hat inzwischen auch die Hersteller über VW hinaus erreicht. Der Premium-Automobilhersteller Mercedes beispielsweise plant Kosteneinsparungen in Höhe von mehreren Milliarden Euro. Der Reifenhersteller Continental wird weltweit 7.150 Arbeiter entlassen und der Elektronikzulieferer Bosch will bis zu 5.550 Stellen abbauen.
Der US-Autoriese Ford kündigte außerdem an, dass er seine Belegschaft in Deutschland um 2.900 Arbeitnehmer abbauen werde, während 14.000 Arbeitsplätze beim Zulieferer ZF und 4.700 bei der Schaeffler-Gruppe, einem weiteren wichtigen Automobilzulieferer, gefährdet seien.
Herausgegeben von: Uwe Heßler