Frankreich hat keine Regierung mehr

Frankreich hat keine Regierung mehr
Frankreich hat keine Regierung mehr
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Das französische Parlament hat die Minderheitsregierung von Michel Barnier am Mittwochabend zu Fall gebracht. Nun muss Emmanuel Macron rasch einen Nachfolger finden. Der Präsident hat sich die Krise vor sechs Monaten selber eingebrockt.

Michel Barnier (Mitte) wartet am Mittwoch aufs Misstrauensvotum: Er wird es nicht überstehen.

Lafargue Raphael / Imago / Abaca

Man kann Michel Barnier nicht vorwerfen, nicht bis zuletzt gekämpft zu haben. Der Mann mit den stets tadellos sitzenden Anzügen trat am Mittwochabend, Punkt 19 Uhr 15, noch einmal ans Rednerpult der Assemblée nationale. Einmal noch wollte er es versuchen und seinen Gegnern von links und rechts ins Gewissen reden.

Er hätte ja auch lieber Geld an die Bürger verteilt, sagte der 73-Jährige. Doch woher nehmen? Frankreich habe dieses Geld schlicht nicht. Und daran werde auch die «Magie eines Misstrauensantrags» nichts ändern. Die Folgen eines Sturzes der Regierung würden alles nur noch schlimmer machen, so Barnier. Aber noch sei es nicht zu spät, noch könnten es sich die Abgeordneten anders überlegen. «Sie halten die Zukunft der Franzosen in den Händen!»

Es sollte die letzte Rede gewesen sein, die Barnier in seiner Funktion als Premierminister Frankreichs in der Pariser Nationalversammlung hielt. Denn um 20 Uhr 32 stand das Ergebnis der Abstimmung fest. Insgesamt 331 der 577 Abgeordneten entzogen Barnier und seinem Kabinett das Vertrauen. Genügt hätten dafür bereits 288 Stimmen. Die überwältigende Mehrheit der linken und der rechten Opposition hatte sich also für den Regierungssturz entschieden. Abweichler, die sich von Barnier erweichen liessen, gab es so gut wie keine.

Finanzielle Abgründe

Damit traf genau das ein, was sich spätestens seit Montag abzeichnete. Das linke und das sehr rechte Lager, sonst einander spinnefeind, sollten sich für einmal zusammentun und die Barnier-Regierung, die selbst nie über eine eigene Mehrheit verfügte, aus dem Amt jagen. Das rechtsnationale Rassemblement national (RN) – besser gesagt: dessen Chefin Marine Le Pen – hatte zu Wochenbeginn klargemacht, Barnier nicht länger zu stützen. Und von ihrer Duldung hing bisher das Überleben der Regierung ab.

Für Le Pen gab ein Gesetz zur Finanzierung der Sozialversicherung den Ausschlag – eines von mehreren Paketen, mit denen die Barnier-Regierung ein Loch in Frankreichs Haushalt in Höhe von 60 Milliarden Euro stopfen wollte. Le Pen hat den Sparhaushalt der Regierung nie wirklich akzeptiert. Auch die vielen Konzessionen, mit denen ihr Barnier entgegenkommen wollte, überzeugten sie nicht.

Mit dem linken Lager musste der Premierminister gar nicht erst verhandeln. Sie lehnten den Haushaltsentwurf kategorisch ab. Und so gab Barnier schliesslich bekannt, vom umstrittenen Artikel 49.3 der französischen Verfassung Gebrauch zu machen, der es erlaubt, Gesetze auch ohne Zustimmung des Parlaments zu verabschieden. Dass im Anschluss an das 49.3-Verfahren die Vertrauensfrage gestellt werden kann, dieses Risiko kalkulierte Barnier mit ein.

Und am Dienstag, in einem Fernsehinterview, erklärte der ehemalige EU-Kommissar noch einmal, wieso. Er erinnerte an die Schuldenkrise, an die schwerwiegenden finanziellen Probleme, die Frankreich habe. Zum ersten Mal müsse Frankreich höhere Zinsen als Griechenland zahlen, sagte Barnier den beiden Journalistinnen von TF1 und 2, die er in sein Büro eingeladen hatte. Und es sei zu erwarten, dass sich die Lage ohne eine handlungsfähige Regierung, die etwas gegen das Haushaltsdefizit von bald 6 Prozent unternehme, noch verschärfe.

Im Budgetplan der Barnier-Regierung waren Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen in Höhe von 60 Milliarden Euro vorgesehen, um das sich ausweitende Defizit Frankreichs zu bekämpfen. Sie sind eigentlich dringend nötig, um das verlorene Vertrauen der Investoren in den französischen Staat wiederzugewinnen und nicht zuletzt um den Vorgaben der EU zu genügen, die bei der Neuverschuldung die Obergrenze von 3 Prozent der Wirtschaftsleistung vorgibt.

«Glauben Sie mir, der Dienstwagen, der Prunk der Republik, das ist mir alles egal!», sagte Barnier. Er wolle nur deswegen Premierminister bleiben, um Frankreich das Los eines Landes ohne Regierung zu ersparen, das noch weiter an den finanziellen Abgrund rücke.

Klar ist: Die zweitgrösste Volkswirtschaft der EU steht nun tatsächlich ohne Regierung da. Der französische Präsident Emmanuel Macron, der Barnier erst im September einsetzte, muss rasch einen neuen Premierminister bestimmen. Die Medien des Landes überschlugen sich am Mittwoch mit Spekulationen über mögliche Kandidaten. Sollte es Sébastien Lecornu machen, der bisherige Verteidigungsminister, den angeblich auch die Präsidentengattin Brigitte Macron schätzt, oder doch ein Sozialist, Bernard Cazeneuve, der frühere Innenminister Gérald Darmanin oder gar der frühere EU-Kommissar Thierry Breton? Bis ein Neuer gefunden ist, können die Minister geschäftsführend im Amt bleiben.

Macron will noch lange nicht gehen

Macron, der erst am Mittwoch von einem Staatsbesuch aus Saudiarabien zurückkehrte, tat lange so, als gingen ihn die innenpolitischen Turbulenzen im Land nichts an. Als ihn Journalisten in Riad auf das drohende Ende der Regierung ansprachen, wurde er aber doch emotional: «Ich kann das nicht glauben!», rief er. Und dem RN warf er «unerträglichen Zynismus» vor. Die Abgeordneten der Partei von Marine Le Pen könnten doch nicht einem Antrag der Linken zustimmen, der sie und ihre Wähler beleidige. Im Misstrauensantrag der Neuen Volksfront ist von einem «Bollwerk gegen die extreme Rechte» die Rede.

Nach Barniers Ankündigung, das 49.3-Verfahren anzuwenden, hatten auch die Rechtsnationalisten einen eigenen Misstrauensantrag aufgesetzt. Dennoch stimmten sie am Mittwoch der Resolution der Linken zu. Gerätselt wird in Paris aber immer noch darüber, warum sich Le Pen überhaupt dafür entschied, Barnier fallenzulassen.

Nach dessen Ernennung im September hatte sie sich noch staatstragend gegeben und sein Kabinett geduldet, um Chaos zu vermeiden, wie sie damals sagte. Sie versprach sich auch, einen gewissen Einfluss auf die Regierung zu nehmen, nicht zuletzt bei der Migration. Doch zuletzt wünschten sich ihre Wähler mehrheitlich den Sturz der Regierung. Zudem droht Le Pen in einem Gerichtsverfahren wegen der Veruntreuung von EU-Geldern eine Haftstrafe im kommenden Jahr. Gut möglich ist, dass Le Pen deswegen noch vorher Präsidentschaftswahlen herbeiführen will und deswegen maximalen Druck auf Macron ausübt.

Emmanuel Macron scheint jedoch fester entschlossen denn je, bis 2027 im Élysée-Palast zu bleiben. Der Präsident empfing Barnier noch am Mittwochabend, um seinen Rücktritt entgegenzunehmen. Am Donnerstagabend will sich Macron in einer Rede an die Nation wenden. In letzter Zeit schwebte er in höheren Sphären, reiste nach Lateinamerika und an den , telefonierte mit Donald Trump, den er zur feierlichen Wiedereröffnung der Notre-Dame an diesem Wochenende nach Paris einlud. Nun muss er erklären, wie es in Frankreich grösster Krise seit Jahrzehnten weitergehen soll.

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