Mitjubeln, mitleiden: Das ist Heidenheim, der letzte Gegner des FCSG in der Conference League – eine Spurensuche
Der FC St.Gallen hat noch eine kleine Chance, europäisch zu überwintern – notabene bei einem Bundesligaverein, der so anders ist. Doch es gibt Schwierigkeiten. Und Trainer Frank Schmidt, die lebende Legende.
Wie der Bahnhof eines Klubs der 1. Bundesliga sieht das nicht aus. Eher nach Altstätten. Oder Flawil. Tatsächlich ist Heidenheim seit eineinhalb Jahren und dem sensationellen Aufstieg ins Oberhaus grösser, als es wirkt. Selbst der junge Velomechaniker, der am Laptopkabel etwas manipulieren soll, sagt: «Für einen in Anführungs- und Schlusszeichen kleinen Scheissverein läuft’s ganz gut.» Aus dem Mann spricht auch der Neid des Rivalen aus Aalen, der etwas grösseren, 20 Kilometer entfernten Nachbarstadt.
In der Conference League ist Heidenheim für den FC St.Gallen die möglicherweise letzte Auswärtsfahrt. Mit Sicherheit ein Final, in dem nur der Sieg hilft. Die dreieinhalbstündige Bahnreise in den Osten Baden-Württembergs führt an den Fluss Brenz in ein verschlafenes 50’000-Seelen-Nest, das bekannt ist für Opernfestspiele, Schloss Hellenstein, Industrie, Fechtsport. Für Gemütlichkeit, Gelassenheit und Beschaulichkeit, das Schwäbische halt.
Dabei müsste Feuer unterm Dach sein. Nicht wegen Chelsea, das vor drei Wochen auf Visite war. Weil nichts mehr geht und sich die Niederlagen stapeln, sechs in Serie sind es in der Liga. «Uns beunruhigt das nicht. Wir bekommen alles wieder in den Griff», sagt die Verkäuferin im Fanshop. Und wir gehen auf Spurensuche.
Der Oberbürgermeister: Aufbruchstimmung
Wenn schon, denn schon. Also zum Chef, Oberbürgermeister Michael Salomo. Seit drei Jahren ist er im Amt – und lässt sich dann und wann an Heimspielen blicken. Mit Fanschal, versteht sich.
Der Klub sei ein Glücksfall für den Ort, der Effekt gross und bis auf den Verkehr durchwegs positiv, sagt der SPDler im vierten Stock des Provisoriums; das Rathaus wird gerade umgebaut für 35 Millionen Euro, demnächst sollen in die Innenstadt 60 Millionen investiert werden. Die Bevölkerung könnte demnach im Kreis der Fussballelite euphorisch werden. «Nein. Net gschimpft isch globt gnug, sagt der Schwabe. Und der Heidenheimer ist der Schwabe in Perfektion – also demütig. Schon stolz, nur weiss er nicht, wie er das zeigen soll», sagt Salomo.
Unterdessen weiss in Deutschland jeder, wo Heidenheim liegt. Das freut das 36-jährige Oberhaupt, das als Rettungssanitäter und Zollbeamter schon arbeitete, ein wenig als Tausendsassa gilt. Und an der Hochschule in St.Gallen, wo die Mutter einmal für zwei Jahre wohnte, eine Leadership-Weiterbildung absolvierte. «Man kennt sich wie in einem Dorf, wir sind aber eine Stadt. Mit Qualität und in Aufbruchstimmung. Heimelig. In Heidenheim kann man gut Fuss fassen, einen schönen Lebensweg hinlegen. Und die soziale Klammer ist unser Fussballklub, aber seinen Erfolg dürfen wir nie als selbstverständlich ansehen.»
Eine gesellschaftliche Klammer kann man in Deutschland besonders gebrauchen. Weil es in der Krise steckt, politisch, wirtschaftlich. Salomo sieht das anders und sein Land im Flow: «Alles zu hinterfragen und nie zufrieden zu sein, das ist made in Germany.» Seit gestern hat Salomo Ferien, mit dem Lebenspartner ist er nach Vietnam geflogen. Und wird die Partie gegen den FC St.Gallen auf dem Handy verfolgen – der Tipp: 2:1 für sein Heidenheim.
Der Journalist: Mitjubeln, mitleiden
Dem Industriesektor ging es schon besser, auch der Voith-Gruppe, sagt Thomas Jentscher. Voith, ein weltweit agierender Technologiekonzern in der Nähe, ist der Namensgeber des kultigen Stadions auf dem Schlossberg, der über die Stadt wacht. Und Jentscher Sportredaktor bei der Heidenheimer Zeitung mit täglich 20’000 gedruckten Exemplaren. Der Verlag beschäftigt 26 Leute in der Redaktion, seit 34 Jahren auch den passionierten Laienschauspieler.
Der Sportjournalist hat all die Aufstiege bejubelt, zuerst 2003/04 in die Oberliga, dann mit Trainer Frank Schmidt in die Regionalliga, 3. Liga, 2. Bundesliga. Und ins Oberhaus. Jetzt leidet Jentscher wegen der Resultatkrise, mit ihm die beiden Söhne, die in der Kurve stehen. Er sieht den Europacup als zu grosse Belastung.
Zudem seien nach der letzten Erfolgssaison mit dem achten Schlussrang die Abgänge der besten Spieler nicht gut ersetzt worden. Was Wunder bei zwei Angestellten im Scouting, die sich nur im deutschen Sprachraum bewegen. Heidenheim hat fast nur Einheimische im Kader, kaum Ausländer. Zufall – und Verständigungssache.
Für Jentscher ist der Verein ein Geschenk des Himmels, weil die Sportberichterstattung im Ort wieder mehr zählt. Ein Abstieg wäre trotzdem kein Drama. «Der Klub ist aussergewöhnlich, er geht seinen Weg und erkaufte sich nicht den Erfolg. Wie hier alles kam, ist surreal. Erklären kann man das nicht. Es hat einfach stets gepasst.» Dazu mit einem Team, das spielerisch für den 59-Jährigen nie herausragend war.
Trainer Frank Schmidt: Lebende Legende
«Geradeaus und ehrlich», heisst es in der Vereinshymne. Auch Frank Schmidt wird so beschrieben, seit 17 Jahren der Erfolgscoach des FC Heidenheim. Und davor hier noch Defensivspieler. Der 50-Jährige ist eine Institution, gilt als impulsiv und autoritär. Und: als absolut unantastbar.
Schon mehrmals hat es von Klubseite geheissen, dass Schmidt so lange bleiben kann, wie er möchte. Weil Schmidt, 200 Meter vom Heidenheimer Stadion entfernt zur Welt gekommen, eine lebende Legende ist. Am Ego kratzt es aber schon, dass es seit einigen Monaten – trotz Tabellenspitze nach zwei Spieltagen – nicht mehr läuft.
An diesem Mittwoch hat der Trainer einen guten Tag. So sagt er das selbst. Vielleicht, weil jüngst in Stuttgart Kampf, Herz und Leidenschaft wieder stimmten im Team. Trotz des 1:3. «Es war ein Schritt. Und ein Signal an die Fans, dass wir alles geben und unsere Basics auf den Platz bekommen. Aber es geht um Punkte – das war bei uns zuletzt nicht gut.» Deshalb ist für Heidenheim, auf dem Relegationsplatz liegend, die Partie am Sonntag beim Tabellenletzten Bochum wichtiger und der Druck seit einer gefühlten Ewigkeit negativ.
Schmidt leidet an einer Verknöcherung der Halswirbelsäule, sein Kopf ist deshalb immer etwas nach rechts geneigt. Der Familienvater wünscht sich zu Weihnachten etwas mehr Zeit für seine Frau und die drei Töchter, als Märchen sieht er seine Geschichte nicht. «Wir hatten einen Plan, und es am Ende verdient geschafft. Natürlich ist es jetzt ein hartes Erwachen. Aber Fussball ist ein Spiel, man weiss selten, wie es ausgeht.» Und wenn er dereinst nach schlechten Leistungen nichts mehr kritisiere, sollten die Alarmglocken angehen. Oder der sympathische Charakterkopf macht dann in der Stadt seine Tapas-Bar auf, von der er manchmal spricht.
Alb. Rot. Blau: Fanklub mit Zulauf
In Heidenheim wurde der erste Sportbund 1846 gegründet, 1911 entstand daraus der Fussballverein. Bei Alb. Rot. Blau kostet die Mitgliedschaft deshalb sinnige 18,46 Euro. Den Fanklub gibt es seit 2023, er ist einer von 15, selbstverständlich mit eigenem Emblem. Und zählt, wobei es immer mehr werden, 175 Leute, darunter viele Frauen und Kinder. Das älteste Mitglied ist 85, das jüngste sieben, jedes ist im Heidenheimer Spital geboren.
Joachim Mack ist der Vizepräsident bei Alb. Rot. Blau, wobei Rot und Blau die Vereinsfarben sind, und Alb für das Mittelgebirge Schwäbische Alb steht. Der Familienvater sagt: «Der Aufstieg in Regensburg, damals am 28. Mai 2023, das war der Wahnsinn. Wir lagen in der 90.Minute 1:2 hinten, mussten gewinnen. Ehe Kleindienst in der 99.Minute zum 3:2 traf. Es war wie Weihnachten, die Stadt danach ausser Gefecht gesetzt.»
Der Fanklub organisiert Fahrten an jedes Auswärtsspiel, das in knapp vier Stunden zu erreichen ist. Dazu ein Sommer- und ein Winterfest. Der Zusammenhalt ist gross, in München standen schon 5000 Anhänger in der gesamten Kurve, welche ihr Motto «Lebe deinen Traum» in die Tat umsetzt. Gewiss gebe es derzeit in der Liga eine Delle, sagt der 52-jährige Mack. «Aber wir glauben weiter an unsere Jungs, sie müssen einfach auf dem Platz ihr letztes Hemd geben. Schaffe, schaffe, schaffe, das ist unsere schwäbische Mentalität.» Kritik an Trainer Schmidt gibt es keine, im Wissen, dass es mit ihm irgendwann immer aufwärts geht.
Und nach dem Schlusspfiff geht es weiter mit der dritten Halbzeit in Liko’s Kiosk, den es hier schon vor dem mit 555 Metern über Meer höchstgelegenen Stadion des deutschen Profifussballs gab. Und um den herum die Tribünen so gebaut wurden, als wäre er Unesco-Weltkulturerbe. Hier auf dem Schlossberg, wo Schmidt einmal gesagt hat: «Der Berg ruft.»