Gerhard Pfister tritt zurück – um sich als Bundesrat neu zu erfinden?

Gerhard Pfister tritt zurück – um sich als Bundesrat neu zu erfinden?
Gerhard Pfister tritt zurück – um sich als Bundesrat neu zu erfinden?
-

Nun tritt er als Vorsitzender der Zentrumspartei zurück. Sich als Bundesrat neu erfinden?

„Ich habe keine Präferenz – ich will nur Erfolg“: Gerhard Pfister, immer noch Präsident des Zentrums.

Christoph Ruckstuhl for NZZ

Gerhard Pfisters Präsidentschaft hätte am 28. November 2020 enden können, das war der Tag, an dem über ihn gerichtet wurde. Er stand in einer Mehrzweckhalle im Zuger Ägerital, wo er herkommt, und verband sein Schicksal mit einem neuen Namen: „Das Zentrum“. So soll seine Partei, die traditionelle CVP, künftig heißen, fusioniert mit Resten der BDP, einer Liga der Unbestimmten.

NZZ.ch benötigt für wichtige Funktionen JavaScript. Ihr Browser oder Werbeblocker verhindert dies derzeit.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Pfister hat in seiner Rede alles gegeben: Er hat die CVP bei den Wahlen 2019 stabilisiert – nach einem langen, stetigen Niedergang und obwohl alle vom Gegenteil ausgegangen waren. Wir sollten ihm auch jetzt vertrauen, wenn es um die Zukunft geht. Die jungen Leute in der Partei stehen hinter ihm. Er hat keinen Plan B.

Er kündigte eine ungewisse Zukunft an. In den katholischen Heimatländern wird es seit Monaten routinemäßig abgelehnt: Eine CVP ohne C und einen Bezug zum Christentum – niemals. Würde seine Partei ihm nun in die Mitte folgen?

Die Endzeitfigur

Tatsächlich kandidierte er 2016 als CVP-Präsident, um das Gegenteil von dem zu erreichen, was er nun vertrat. Er wollte das C nicht opfern, sondern stärken. An einer Delegiertenversammlung in Appenzell sprach er sich gegen den radikalen Islam, gegen die Burka und für „christlich-demokratische Werte“ aus. Er sagte, dass die Menschen viel zu lange gegenüber den Intoleranten tolerant gewesen seien. Viele Leute in der CVP sahen sich bestätigt: Galt Gerhard Pfister nicht immer als letzter Abgeordneter der Katholisch-Konservativen?

Er stammt aus einer Schweiz, die sich bereits in Auflösung befand. Als Kind besuchte er die Klosterschule in Disentis und studierte anschließend Literatur und Philosophie an der Universität Freiburg. Sein Lebenslauf folgte der Logik, die schon immer für das katholische Milieu galt. Er übernahm die Privatschule von seinem Vater. Er trat wie sein Grossvater der CVP bei. Doch das „Institut Dr. Pfister“ musste irgendwann schließen. Und die CVP befand sich im Niedergang. Er war eine apokalyptische Figur, seine Umgebung war verschwunden, aber er war immer noch da. Pfister war froh, darunter zu leiden.

Er ist ein Konservativer, wie man an seinen Hemden erkennen kann, die oft mit seinen Initialen bestickt sind. Für ihn muss das Neue zunächst beweisen, dass es besser ist als das Alte. Auch als er in seinem späteren Wirken der Mitte-Partei ein neues (und linkes) gesellschaftspolitisches Profil gab, behauptete er, seine Gründe dafür in der Vergangenheit gefunden zu haben: Der frühere CVP-Präsident Carlo Schmid, eines seiner Vorbilder, war auch ein Sozialkonservativer.

Handke im Bundeshaus

Seine Faszination für das Flexible und Agile lässt sich jedoch bereits in seiner früheren Biografie erkennen. Seine Doktorarbeit verfasste er über den literarischen Verwandlungskünstler Peter Handke, „einen der wenigen Autoren, die sich ästhetisch und poetologisch kontinuierlich weiterentwickelten und stets nach neuen Formen und Regeln suchten.“ Das sei äußerst spannend gewesen, sagte er einmal der „Basler Zeitung“. Das Gleiche gilt für Pfister in der Politik: Er hat sich mit teils akrobatischer Agilität immer wieder neu erfunden.

Als ihm klar wurde, dass seine konservative Wertedebatte die Partei weniger anregte als vielmehr in Angst und Schrecken versetzte, wurde er progressiver. Nicht zum ersten Mal wurde er als Verwandlungskünstler beschrieben: vom Konservativen zum Reformer. Doch Pfister wurde kein Reformer, sondern ein klassisches CVP-Mitglied. Er war bereit, seinen Glauben aufzugeben, um seine Macht (und die seiner Partei) zu behalten. Als es um den Namen ging, sagte er einmal den Satz: „Ich habe keine Präferenz – ich will nur Erfolg.“ Es war das kürzestmögliche Selbstporträt.

Umso tragischer wäre Gerhard Pfister ausgegangen, wenn er am 28. November 2020 die Abstimmung über den neuen Parteinamen verloren hätte: als katholischer Konservativer, der für seine Selbstverleugnung bestraft wurde.

Doch 85 Prozent der Delegierten seiner Partei folgten ihm. Mit anderen Worten: Spätestens an diesem Tag übergaben sie sich ihm. Pfister sprach zunehmend davon, dass seine Partei nach dem Milieuverlust endlich Ideen brauche. Aber die Idee war in erster Linie seine eigene. Immer ein anderes. Pfister war auch ein unberechenbarer Präsident, der die Dinge gerne mit sich selbst (oder höchstens mit seiner Generalsekretärin Gianna Luzio) regelte. Selbst hochrangige Parteikader sollen erst am Vorabend von seinem Rücktritt erfahren haben. Er konnte seinem Volk gegenüber so aufbrausend sein, dass es ständig Angst hatte – er war ein kaltblütiger Taktiker, ein zentristischer Machiavelli, der versuchte, die Partei aus eigener Kraft zu positionieren.

In den letzten neun Jahren schien es manchmal so, als würde die Mitte von Pfister-Interview zu Pfister-Interview leben. Seine Leute müssen atemlos die Zeitungen aufgeschlagen haben: Wofür stehen wir heute?

Und so war es klar, als Pfister seine Stimme im Ägerital gewann: Die Partei würde einen neuen Namen haben, aber ihr Präsident würde derselbe bleiben – und das Prinzip auch.

Sozialkonservativ – ein Zauberwort

Gerade im Bundesparlament, wo die Partei seit Jahrzehnten die Mehrheitsmacht innehat, dürfte schnell klar werden, dass die neue Mitte ähnlich politisiert wie die alte CVP: irgendwie konservativ, irgendwie kompromissbereit, irgendwie unberechenbar. Ausnahmen bestätigen die Regel. Und gerade hier – in diesen seltenen Momenten, in denen die Partei im Bundeshaus eigene Akzente setzte – sind die Spuren des scheidenden Parteipräsidenten am deutlichsten zu erkennen.

Pfister hat eine Nische, ein scheinbar vielversprechendes Zuhause in der dicht besiedelten Parteienlandschaft der Schweiz identifiziert, in die er sein Volk führen will: Wenn es nach ihm geht, soll die Mitte zu einer gesellschaftlichen Kraft im bürgerlichen Lager werden. „Sozialkonservativ“ – das ist seit einiger Zeit sein Zauberwort.

In den letzten Jahren suchte er zunehmend die Nähe zur Linken im Bundeshaus, die sich bei seiner Wahl zum Parteipräsidenten über die Rechtsradikalisierung der CVP entsetzt hatte. Die Skepsis ist verschwunden. Die Menschen sind sich persönlich und politisch näher gekommen. An dem Tag, an dem er seinen Rücktritt ankündigte, äußerte sich Pfister auffallend freundlich über die SP-Führung (das Co-Präsidium funktionierte hervorragend). Gegenüber der FDP hingegen pflegt er seit Jahren einen Narzissmus der kleinen Differenzen.

Manchmal schien es, als würde die Mitte von Pfister-Interview zu Pfister-Interview leben: der Präsident im Nationalratssaal.

Anthony Anex / Keystone

Im Jahr 2023 hieß es in einem Werbevideo des Zentrums: „Was muss sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist?“ Es war eine Frage, die den neuen sozialkonservativen Geist atmete. Selbst in Pfisters Kreisen galt der Staat nun als Schutzschild gegen die Anforderungen der Zeit.

Frühere Parteipräsidenten hatten der CVP bereits alle erdenklichen Etiketten verpasst. Gerhard Pfister hat es dabei nicht belassen. Nachdem er seine Partei zum „sozialkonservativen Pol“ erklärt hatte, fielen im Parlament plötzlich Entscheidungen, die vorher kaum vorstellbar gewesen wären. Und es ist kein Zufall, dass es um den ersten Teil der neuen Selbstdeklaration – die Sozialfrage – ging, denn den zweiten Teil besetzt die SVP.

Selbst SP-Vertreter konnten nur staunen, als die Mitte-Fraktion im Nationalrat unter Führung ihres Präsidenten vor gut zwei Jahren eine massive Ausweitung der Prämienverbilligungen unterstützte. Das Projekt war so teuer, dass einige zentristische Ständeratsmitglieder dachten, sie wären in der falschen Partei. Sie legten ihr Veto ein und der Vorschlag wurde erheblich skaliert.

Fast zeitgleich kam es im Bundeshaus zum zweiten sozialpolitischen Showdown der Mitte: Ihre Parlamentarier machten mit identischen Vorschlägen die Forderung einer ausserordentlichen AHV-Tarifzulage für alle Rentner. Dieses Projekt wäre fast gelungen.

Diese Ständeräte immer wieder

Die beiden Episoden verraten viel über die tatsächlich existierende Mitte-Partei unter Gerhard Pfister und wie sie die Politik jenseits aller Präsidentschaftsmarketingbemühungen prägt.

Erstens: Sie ist möglicherweise die einflussreichste Partei des Landes. In beiden Kammern des Parlaments kann sie gemeinsam mit den Parteien zu ihrer Rechten oder zu ihrer Linken Mehrheiten bilden.

Zweitens: Wie in keiner anderen Partei klafft eine Kluft in der Mitte zwischen den Nationalräten und dem Ständerat. Pfister litt oft darunter. Mehr als einmal zeigten ihm die selbstbewussten Herrscher seine Grenzen auf. Nun möchte Pfister, ausgerechnet ein strenger Föderalist von Haus aus, dass sich die zentristischen Stadträte stärker den Parteigründen unterordnen. Er sagt seit Jahren und wiederholte ihn an diesem Montag, dass sie sich stärker darüber im Klaren sein müssten, dass sie auch ihr Mandat der Partei verdanken.

Drittens folgt daraus, dass das Zentrum auch unter Gerhard Pfister unberechenbar geblieben ist. Es ist schwer vorstellbar, was passieren wird, wenn die neue Parteispitze zu Ende bringt, was sie begonnen hat: Wenn sie ihre Reihen schließt und den „Sonderbund“ im Ständerat knackt, wird die Mitte kaum noch aufzuhalten sein.

Außerhalb des Parlaments hat sie die staatsfördernde Zurückhaltung bereits aufgegeben. Mit ihrer AHV-Initiative fordert sie einen milliardenschweren gesellschaftlichen Ausbau, ohne die Finanzierung zu regulieren. Wird dies auch die zukünftige zentristische Politik im Parlament sein? Die Wahl eines Parteivorsitzenden war selten wichtiger als heute – auch weil sie bisher so stark von seinem Präsidenten beeinflusst wurde. Gerhard Pfister selbst sagte am Montag, dass die neue Führung „partizipatorischer“ sein müsse. Einige in der Gruppe werden sich die Augen reiben.

Eine letzte Neuerfindung

Und was wird aus ihm? Nach seinem Rücktritt als Parteipräsident stellt sich die Frage, ob er sich im Sinne Handkes noch einmal neu erfinden kann – als Bundesrat? Viele erwarten, dass die letzte verbliebene zentristische Bundesrätin Viola Amherd bald zurücktritt – und Pfister wird sich nun elegant positionieren.

Ihm wurde jahrelang beigebracht, nichts darüber zu sagen. Er hat nie bestritten, dass er es sich vorstellen konnte. Es war immer klar, dass er es wollte. Als zentristischer Präsident war er, insbesondere in den Corona-Jahren, teilweise fast einvernehmlicher als der Bundesrat selbst. Und er hat gelernt, seine Überzeugungen für ein neues Amt aufzugeben. So sehr, dass sich das Parlament, das ihn in den Bundesrat wählen müsste, nun fragt: Wer ist Gerhard Pfister wirklich – die katholisch-konservative Milieufigur, als die er CVP-Präsident wurde, oder der flexible, anpassungsfähige Mittelsmann? Als wen tritt er jetzt zurück? Ob der 6. Januar 2025 der Tag sein wird, an dem er langsam die große Bühne verlässt, ist unklar. Seine unzähligen Facetten könnten es noch weiter bringen, oder auch gar nicht.

Auch das gehört zum Schicksal eines Verwandlungskünstlers.

-

PREV Mike Kracks brutales Geständnis, als Aston Martin im Jahr 2024 aus Gnade fällt
NEXT Galatasaray – Başakşehir Spiel auf welchem ​​Sender und zu welcher Zeit? Wann findet das Spiel ZTK Galatasaray – Başakşehir statt? Heute? – Last-Minute-Sportnachrichten