Zeiten ändern Dich. Diese Erfahrung machte auch der österreichische Bundespräsident Alexander van der Bellen. Nach einem Gespräch mit FPÖ-Chef Herbert Kickl gab er dem Rechtsextremisten den Auftrag, eine Regierung zu bilden. Und mit ihm der Mann, der ihn auch als „Mumie in der Hofburg“ bezeichnete.
Kalt, knapp, pflichtbewusst: Das Unbehagen stand dem Bundespräsidenten ins Gesicht geschrieben. Bereits im Herbst hatte er ausgeschlossen, dass „Kanzler Kickl“ den roten Teppich ausrollen würde. Das damalige Urteil: Herbert Kickl ist ungeeignet, Österreich zu regieren.
Wiener Abtrünnige
Nun musste sich Van der Bellen der Realität beugen. Nach dem Scheitern der „Zuckerkoalition“ ist die bisherige Kanzlerpartei ÖVP bereit, in Koalitionsverhandlungen mit der rechtspopulistischen FPÖ einzutreten – als Juniorpartner.
Das Manöver der konservativen ÖVP ist mit erheblichen rhetorischen Verrenkungen verbunden. Denn der neue Interimschef der ÖVP und bisherige Generalsekretär Christian Stocker warf Kickl im Wahlkampf einiges vor die Füße.
Eine Auswahl in Anführungszeichen:
Herr Kickl, niemand will Sie in diesem Haus haben (im Parlament, Anm. d. Red.). Auch in dieser Republik braucht dich niemand.
Die Wahrheit ist: Kickl ist ein radikaler Verschwörungstheoretiker.
Wer sich für Kickl entscheidet, entscheidet sich für fünf Jahre Hochrisiko mit radikalen Ideen.
Mittlerweile gehört die Kickl-FPÖ zum rechtsextremen Rand in ganz Europa.
Nun zieht sich Stocker in die Hinterzimmer der Wiener Politik zurück, um eine Koalition mit „dem radikalen Verschwörungstheoretiker“ zu schmieden.
An den Honigtöpfen der Macht
Der „Anti-Kickl“ vollführt eine politische Pirouette, die auch die österreichische Journalistin Eva Linsinger in Erstaunen versetzt. „Selbst Rechtsanwalt Christian Stocker kann eine solche Wende kaum vertreten.“
Was einst als Firewall nach rechts verkauft wurde, hat sich für Linsinger als „krumme Firewall“ entpuppt. Letztlich spricht die ÖVP von Verzweiflung: „Die Partei regiert Österreich ununterbrochen seit 1987. Der Machterhalt ist ihr offensichtlich wichtiger als die eigene Glaubwürdigkeit.“
„Verräter“ und „Systemisten“
Herbert Kickl gilt als rhetorisch begabt. Aber auch der selbsternannte „Volkskanzler“ dürfte in argumentative Schwierigkeiten geraten, wenn er einen Zusammenschluss mit der ÖVP erklären will.
Hässliche Beleidigungen gehören für Kickl zum Standardrepertoire im Umgang mit politischen Gegnern. Die ÖVP ist einer seiner Lieblingsfeinde:
Stocker ist ein spiritueller Einzeller.
Österreich braucht Kanzler Nehammer nicht, der wahrscheinlich glaubt, dass die englische Übersetzung von Kanzler Burger King ist.
Es gibt nicht genug künstliche Intelligenz auf dieser Welt, um das zu kompensieren, was der ÖVP fehlt.
Gemeinsam zur Wahl antreten (an ÖVP, SPÖ, Grüne und Neos, Anm. d. Red.). Ich habe bereits eine Vorstellung davon, wie eine solche Liste heißen könnte: „Verratsliste“ würde gut passen.
Wenn die ÖVP von „der Mitte“ spricht, meint sie die Mitte von Chaos, Niedergang und Scheitern.
Klar ist: Bevor sich der selbsternannte „Volkskanzler“ und der „Anti-Kickl“ auf eine Koalition einigen, müssen zwischen den Menschen noch einige Stücke zusammengetragen werden. Inhaltlich sind die Lücken bereits groß. Kickl vertritt radikale Positionen, insbesondere in der Migrations- und Außenpolitik.
Peter Balzli, SRF-Korrespondent in Wien, fasst zusammen: „Es bleibt abzuwarten, wie kompromissbereit Kickl mit einer Partei sein wird, die er als Verräter und Systemisten bezeichnet hat.“