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Brienz muss bis am Sonntag evakuiert werden

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Bis Sonntagmittag müssen alle Einwohnerinnen und Einwohner das Dorf Brienz im Kanton Graubünden verlassen haben. Womöglich können sie erst im Frühling zurück. Aber würden sie das überhaupt wollen?

Wie lange bleibt das Dorf noch verschont? Blick auf Brienz am Dienstag, 12. November.

Gian Ehrenzeller / Keystone

Der Hang oberhalb von Brienz bewegt sich, Schutt und Gestein bedrohen das Dorf. Zum zweiten Mal innert zweier Jahre müssen die Brienzer ihr Zuhause zurücklassen. Das Bündner Dorf muss bis Sonntagmittag evakuiert sein. Starke Niederschläge haben in den letzten Wochen die Rutschungen im Hang beschleunigt. Bald wird es erneut regnen, und bis zu eine Million Kubikmeter Schutt könnte sich laut Geologen in Bewegung setzen. Das teilte die Gemeinde Albula mit, zu der Brienz gehört. Es gilt die Warnstufe Orange.

Im Frühling 2023 hatten die Einwohnerinnen und Einwohner von Brienz ihre Häuser schon einmal verlassen müssen. Wochenlang mussten sie ihrer Heimat fernbleiben. In der Nacht auf den 16. Juni ist dann tatsächlich ein Teil des Hanges niedergegangen. 1,7 Millionen Kubikmeter Material kamen kurz vor dem Dorfrand zum Stehen.

Nun müssen die Dorfbewohner also wieder ihre Sachen packen, die Post umleiten, das Leben umorganisieren. Sie müssen schauen, wo sie die nächste Zeit unterkommen. Und sie müssen sich fragen, wie lange sie das noch mitmachen. Werden sie ein zweites Mal nach Brienz zurückkehren? Oder sind sie müde – und flüchten vor dem Berg?

Zivilschützer sperren am Dienstag die Gefahrenzone rund um Brienz ab.

Gian Ehrenzeller / Keystone

An einer Informationsveranstaltung am Dienstagabend sagten die Behörden, die Brienzer sollten sich auf eine monatelange Evakuierung einstellen. Sie könnten, wenn überhaupt, wohl erst im Frühjahr 2025 in ihre Häuser zurückkehren. Es sei zwar wahrscheinlich, dass sich die Situation im Winter beruhige, hiess es. Doch es könnte auch sein, dass das Dorf verschüttet werde.

Ungewissheit zehrt an den Menschen

Die Brienzer leben seit Jahren mit der Angst vor dem Berg. Im Hang wirken enorme Kräfte. Zuerst erlebten die Einwohner diese Kräfte als abstrakte Zahl in Berichten, die sie immer häufiger vorgelegt bekamen und die immer bedrohlicher zu klingen begannen. Dann sahen sie, wie sich diese Kräfte an ihren Häusern entluden. Sie rissen Wände, Decken, Rohre auf. Die Brienzer konnten ihre Türen nicht mehr schliessen, weil sich das Holz ständig verzog.

All das wurde in Brienz alltäglich. Und immer wenn es neue schlechte Nachrichten gab, lud die Gemeinde Albula zur Informationsveranstaltung ein. So auch am vergangenen Samstag, als die Gemeinde die Warnstufe Gelb ausrief und sagte, eine Evakuierung stehe kurz bevor. Und am Dienstagabend, als die Evakuierung beschlossen war. Es ist die 21. Veranstaltung innerhalb weniger Jahre.

Am Dienstag informierten Vertreter der Behörden über den Zustand des Gesteins, mögliche Sprengungen, die Evakuierung. Am Samstag bot die Gemeinde gar einen Versicherungsberater auf. Die Gemeinde geht routiniert vor, so scheint es.

Dennoch sind die Unsicherheit und der Frust bei den Brienzern gross. Am Dienstagabend sagte ein Mann zu den Behörden: «Wenn wir ein drittes Mal wegmüssen, werden wir nicht mehr gehen.» Und: «Ich würde auch jetzt bleiben. Aber ich muss gehen.» Der Gemeindepräsident von Albula, Daniel Albertin, antwortete: «Ja, du musst.»

Die Situation ist für viele Beteiligte emotional, das zeigt sich an diesen Veranstaltungen ganz besonders. Manche sind wütend, andere traurig, einige hinterfragen die Angaben der Experten. Er lebe seit Jahren im Stand-by-Modus, sagte ein Mann am vergangenen Samstag. Er erzählte, wie seine Sachen gepackt zu Hause bereitstünden – um jederzeit gehen zu können. Es sei ein ständiges Warten darauf, dass der ganze «Zinnober» losgehe. Die Politiker müssten sich fragen, was das psychisch mit der Bevölkerung mache, sagte er. «Wie lange kann und will man uns das noch zumuten?»

Andere sorgen sich um die finanzielle Existenz. Bei einem Totalschaden bekommen die Bewohner von Brienz eine Entschädigung. Unklar ist aber, wie man mit schleichenden Schäden umgeht. Türen und Leitungen müssen ersetzt und Risse gestopft werden. Ein älterer Mann sagte: «Mein Haus ist meine Altersvorsorge, wenn es den Bach runtergeht, hängt meine Existenz daran.»

Der Kanton Graubünden teilte am Dienstag mit, er werde anlässlich der Evakuierung Soforthilfe in Höhe von 500 000 Franken leisten. Dies, um ungedeckte Umzugs- und Mietkosten der Einwohnerinnen und Einwohner von Brienz zu decken.

Letztes Jahr kam der Schutt nur bis zum Dorfrand. Doch jetzt ist die Schutthalde feucht und deshalb gefährlicher.

Bernd März / Imago

Die 40-Millionen-Wette

Das Dorf Brienz liegt an einem Hang im Bündner Albulatal. Politisch gehört es gemeinsam mit Tiefencastel, Alvaschein, Alvaneu, Mon, Stierva und Surava zur Gemeinde Albula. In Brienz leben knapp 80 .

Wissenschafter sagen, dass dieser Hang schon seit der letzten Eiszeit rutsche. Kaum ein anderer Hang in den Alpen bewege sich so stark. Die Brienzer wissen seit Jahrhunderten, dass sich der Boden unter ihren Häusern verschiebt. Deshalb haben sie einst eine Glocke in ihren schiefen Kirchturm gehängt. Auf die Glocke schrieben sie ein Gebet, in dem sie von ihrem Patron, dem heiligen Calixtus, Schutz vor den «schlüpfrigen Felsen» erflehten.

Lange blieb das Dorf verschont. Doch seit einigen Jahren rutscht der Hang immer schneller. In den 2010er Jahren bewegte er sich 20 Zentimeter jährlich, 2020 war es ein Meter, in diesem Jahr waren es bislang mehr als zwei. An Spitzentagen rutsche der Hang 30 Zentimeter täglich, sagen Experten.

1,2 Millionen Kubikmeter Schutt drohen das Dorf zu verschütten.

Gian Ehrenzeller / Keystone

Die Gemeinde arbeitet seit Jahren an einer Lösung. Nun baut sie einen Entwässerungsstollen, der das Wasser abführen soll, in den Berg. Denn hier liegt das Problem: Wasser wirkt zwischen den Gesteinsschichten wie ein Schmiermittel und beschleunigt die Rutschung des Hangs. Drei Jahre wird es noch dauern, dann soll der 1666 Meter lange Entwässerungsstollen fertig sein. 40 Millionen Franken kostet das Loch, das Brienz retten soll.

Neunzig Prozent finanzieren der Bund und der Kanton Graubünden. Zehn Prozent tragen die Gemeinde, die Rhätische Bahn, die Schweizer Stromnetzbetreiberin Swissgrid, das kantonale Tiefbauamt. Der Stollen ist für viele die vielleicht letzte Hoffnung auf ein normales Leben im Heimatdorf.

Er steht für ein Wettrennen. Es geht darum, was eher nachlässt: der Drall des Hangs oder der Widerstandswille der Dorfbewohner.

Die Brienzer wollen in der Region bleiben

Im Jahr 2019 füllten die Bewohner von Brienz eine Umfrage aus. Zwei Drittel der Bevölkerung gaben dort an, dass sie in der Gemeinde Albula bleiben möchten, falls sie Brienz dauerhaft verlassen müssen.

Die Gemeinde und der Kanton Graubünden gaben darauf eine Studie in Auftrag. Sie sollte zeigen, wie eine solche Umsiedlung gelingen könnte. Die Macher der Studie prüften zehn Standorte innerhalb der Gemeinde Albula, wo die Brienzer hinziehen könnten. Drei davon gelten als geeignet.

An der Informationsveranstaltung am Dienstagabend kündigten die Behörden an, am 20. November mit den Brienzerinnen und Brienzern über diese Umsiedlungspläne zu sprechen. Auch der Kanton Graubünden teilte mit, den Umsiedlungsplan «vorsorglich» zu verfolgen. Das heisst, erst wenn Brienz als unbewohnbar gilt, leitet der Kanton die Umsiedlung ein. Dann hätten die Brienzer keine Wahl: Sie müssten für immer gehen.

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