Die erfolgloseste Fußball-Nationalmannschaft aller Zeiten ist derzeit so erfolgreich wie nie zuvor. San Marino kann heute in Liechtenstein Geschichte schreiben. Gelingt im 101. Versuch der erste Auswärtssieg der Verbandsgeschichte, ist der Aufstieg perfekt – und die WM-Playoffs sind greifbar.
Der Begriff “Fußball-Wunder” wird vielleicht inflationär gebraucht. Was aber soll es sonst sein, wenn die erfolgloseste Nationalmannschaft der Fußball-Geschichte, der Letzte der Weltrangliste, seine Gruppe in der Nations League gewinnen und plötzlich sogar von der Teilnahme an den Playoffs zur Weltmeisterschaft träumen würde?
Das Nationalteam aus dem Zwergstaat San Marino hat am heutigen Montagabend eine historische und vielleicht einmalige Chance. Lokale Medien berichten über den “Traum von der Nacht der Wunder” oder von dem “einen Sieg”, der reichen würde, “um Geschichte zu schreiben”. Der “San Marino fan account” bringt es bei “X” auf den Punkt: “Alles ist möglich”.
Die “Titanen”, so werden die Kicker aus San Marino genannt, treten in Liechtenstein an. Das Nationalteam aus dem fünftkleinsten Land der Welt reist ins sechstkleinste Land. Nur Vatikanstadt, Monaco sowie die Südseeinselstaaten Nauru und Tuvalu sind noch winziger. Dafür ist die Chance der san-marinesischen Freizeit-Fußballer im himmelblauen Nationaldress umso größer.
In Vaduz, der Hauptstadt des Fürstentums, geht es um den Gruppensieg in der Nations League D1. Es ist das Gipfeltreffen der Kleinsten der Kleinen. Der Gruppensieg führt zum Aufstieg in die C-Liga der Nations League. Und vielleicht reicht das langfristig sogar für noch etwas mehr. Aber der Reihe nach.
100 Auswärtsspiele, 0 Siege
San Marino kann mit einem Sieg zuallererst eine historisch lange Negativserie beenden. Noch nie hat San Marino ein Länderspiel außerhalb des eigenen Landes gewonnen. Exakt 100 Versuche gab es in 34 Jahren, 100-mal ist nichts passiert.
So gut wie nichts. Immerhin erspielten sich die “Titanen” vier achtbare Unentschieden. 2001 in Riga, da trotzte San Marino dem haushohen Favoriten Lettland ein 1:1 in der WM-Qualifikation ab. 2022 gab es auf der kleinen Karibikinsel St. Lucia, als San Marino zur ersten Länderspielreise außerhalb Europas aufgebrochen war, ebenfalls ein 1:1.
Die zwei weiteren Auswärts-Remis holte San Marino ausgerechnet in Liechtenstein. 2003 endete ein Freundschaftsspiel im Fürstentum torlos. 2020 spielte San Marino in der Nations League 2:2.
Liechtenstein als gutes Omen
Auch die Heimbilanz der “Titanen” ist nur unwesentlich besser. In über 100 Spielen wurden gerade mal zwei Siege eingefahren. Es sind die historisch einzigen Siege in insgesamt 210 Ländervergleichen. Beide Male hieß der Gegner: Liechtenstein.
2004 traf Rekord-“Torjäger” Andy Selva (8 Tore) in einem Freundschaftsspiel zum goldenen 1:0. Im September dieses Jahres, mehr als 20 Jahre nach dem ersten Erfolg, stocherte Nicko Sensoli den Ball zum 1:0-Siegtreffer ins Netz. “Enormen Stolz”, habe er nach dem Abpfiff verspürt, sagte Nationaltrainer Roberto Cevoli nach dem erlösenden Sieg. “Das war ein Spiel, auf das wir so lange gewartet haben. Unser Präsident hat nach dem Schlusspfiff geweint.”
Der Blick in die san-marinesischen Fußball-Geschichtsbücher verdeutlicht: Wenn San Marino Erfolge feiert, dann gegen Liechtenstein. Ein gutes Omen für den Showdown in Gruppe D1 der Nations League, für das Finale Furioso im Fürstentum.
Deutscher Nationaltrainer im Fürstentum
Hier in Liechtenstein, gerade mal eine Autostunde entfernt vom Bodensee, eingerahmt vom malerischen Alpenpanorama, umgeben von der Schweiz und Österreich, ist Fußball kein großes Ding. Nur sieben Vereine gibt es im ganzen Land, eine eigene Liga hat Liechtenstein nicht, die Klubs spielen im Schweizer Ligensystem. Bekannt ist das Fürstentum eher als Eldorado des Finanzwesens oder für seinen größten Exportschlager: Die Hilti AG verkauft ihre knallroten Schlagschrauber und Bohrhämmer in die ganze Welt.
Auch das liechtensteinische Nationalteam ist noch nicht allzu oft auffällig geworden. In der Qualifikation zur WM 2010 bestritt die deutsche Nationalmannschaft ihr bis dato einziges Länderspiel auf Liechtensteiner Boden und gewann 6:0. Der größte Erfolg der Fußball-Nationalelf des Landes ist ein sensationelles 2:2 gegen Portugal (mit Cristiano Ronaldo) in der Qualifikation zur WM 2006.
Immerhin, es geht inzwischen bergauf unter dem deutschen Trainer Konrad Fünfstück, der in der Saison 2015/16 den 1. FC Kaiserslautern und zuletzt Werder Bremen II trainierte: im Juni ein 0:0 auswärts gegen EM-Achtelfinalist Rumänien, im Oktober ein 1:0-Sieg gegen Hongkong. Es war Liechtensteins erster Sieg nach vier Jahren Sieglosigkeit.
Doch trotz allen Aufschwungs bietet auch das heutige Heimspiel gegen San Marino auf den ersten Blick wenig Potenzial, um für längere Zeit im Gedächtnis von Fußballfans verankert zu bleiben.
Gibraltar und San Marino im Fernduell
Die Nations League hat in der überhitzten Fußballwelt generell keinen hohen Stellenwert. Dabei ist der von der Uefa 2018 eingeführte Wettbewerb besser als sein Ruf. Vor allem für schwächere Nationalteams bietet die Nations League eine Möglichkeit, sich auf ähnlichem Niveau zu messen. Und für San Marino ist die Nations League sogar die Chance auf etwas wirklich Großes.
Vaduz könnte zum Schauplatz des größten Fußball-Wunders in der Geschichte der kleinsten und ältesten Republik der Welt werden. Die Rede ist dabei nicht nur vom ersten Auswärtssieg San Marinos. Denn als wäre ein insgesamt dritter und historisch erster Auswärtssieg im 101. Anlauf nicht schon Wunder genug, spielt auch noch die Tabelle in Gruppe D1 der Nations League verrückt. In der Dreierstaffel liegt Gibraltar mit sechs Punkten vorne, San Marino rangiert mit vier Punkten auf dem zweiten Platz, Liechtenstein ist siegloser Letzter mit zwei Zählern.
Für Gibraltar ist die Nations League allerdings schon beendet. Die Kicker aus dem britischen Überseegebiet haben alle ihre vier Spiele absolviert und können nur bangen Blicks nach Liechtenstein schauen. Am Freitagabend hatte Gibraltar in San Marino in der Nachspielzeit den 1:1-Ausgleich kassiert, ansonsten wären die Kicker vom Affenfelsen schon sicherer Gruppensieger.
Doch der späte Ausgleich durch ein Elfmetertor von Nicola Nanni sorgte bei San Marino eben nicht nur für das seltene Gefühl, ein Fußballspiel nicht verloren zu haben, sondern für bislang nie dagewesene Hoffnung auf ein Fußball-Wunder. Der erste Auswärtssieg San Marinos wäre gleichbedeutend mit dem Aufstieg in die C-Liga der Nations League. Ein Unentschieden würde immerhin für die Teilnahme an der Relegation zur C-Liga reichen.
WM-Playoff-Teilnahme für Fußballzwerg?
Doch selbst die Auswärtssieg-Premiere in Kombination mit dem sensationellen Aufstieg wäre wahrscheinlich noch nicht das Höchste der Glücksgefühle: Gewinnt San Marino, könnten die Zwergstaat-Fußballer auf noch etwas viel Größeres hoffen. Plötzlich hätte das Land mit seinen gerade mal 33.000 Einwohnern die realistische Möglichkeit auf einen Platz in den europäischen Playoffs zur Weltmeisterschaft 2026.
Was klingt wie ein absurder Fiebertraum, kann wegen der Verzahnung von regulärer WM-Qualifikation und Nations League tatsächlich klappen. In der Quali, die von März bis November 2026 gespielt wird, werden die 54 europäischen Nationalmannschaften in 12 Gruppen a vier oder fünf Mannschaften gelost. Die 12 Gruppensieger qualifizieren sich direkt für die WM in den USA, Kanada und Mexiko. Die zwölf Zweitplatzierten schaffen es in die Playoffs. Außerdem erhalten die vier besten Gruppensieger der Nations League, die in ihrer WM-Quali-Gruppe keinen der ersten beiden Plätze belegen, ebenfalls einen Platz in den Playoffs. Und da wird es für die Zwergstaaten in Nations League Gruppe D1 interessant.
Zum Zug kommen zwar zunächst die Nations-League-Gruppensieger aus den Ligen A, B, C und erst danach wäre Liga D an der Reihe. Sind die vier Plätze aber noch nicht verteilt, weil sich genügend Nations-League-Gruppensieger über den regulären Quali-Weg direkt zur Endrunde oder in die Playoffs spielen (was realistisch ist), hätten auch die kleinsten der Kleinen eine Chance. Über diesen Weg könnte es auch ein Fußballzwerg in die WM-Playoffs schaffen. Vielleicht sogar San Marino, der größte Zwerg von allen. Die “Titanen” hoffen jedenfalls auf das Wunder von Vaduz.
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