In Stapeln türmen sich die blauen Exemplare von Angela Merkels Buch „Freiheit“ im Foyer des Deutschen Theaters Berlin. Es ist der Abend der Buchpremiere, die Memoiren sind schon signiert. Die Bundeskanzlerin a. D., so wird es ihre Verlegerin Kerstin Gleba bei der Begrüßung sagen, habe diese am Vortag „in rasanter Geschwindigkeit unterzeichnet“. Viele der Besucher kaufen sich ein Exemplar schon vor Beginn der Veranstaltung und stehen geduldig Schlange. Merkels Ehemann Joachim Sauer bahnt sich seinen Weg durch die Menge; der Schauspieler Ulrich Matthes umarmt jemanden; der Schriftsteller Rainald Goetz steht, etwas erhöht, auf einer Treppenstufe und betrachtet mit ernstem Gesicht die Szenerie. Hauptstadtjournalisten begrüßen andere Hauptstadtjournalisten. Stefan von Holtzbrinck, Geschäftsführer der Verlagsgruppe, die Merkels politische Erinnerungen für eine wahrscheinlich exorbitante Summe eingekauft und in mehr als 30 Länder verkauft hat, sagt im Gespräch: Bei manchen Büchern gehe man gerne Risiken ein. Wie groß das finanzielle Risiko ist, verrät er aber nicht.
Im Theatersaal spricht Verlegerin Gleba von der Gunst der Stunde, in die die Veröffentlichung falle, von einer „Situation, in der politische Akteure mitunter so wirken, als führten sie ein Shakespeare-Drama auf“. Sie lobt die „Erzählkunst“ Angela Merkels und ihrer Co-Autorin und ehemaligen Büroleiterin Beate Baumann, woraufhin im Publikum einige, die das Buch schon kennen, leise vor sich hinkichern. Schließlich verschwindet sie, die Bühne ist leer, die beiden Stühle darauf auch. Die Theaterkulisse dahinter zeigt hohe Häuser bei Nacht.
Die Unsichtbare hinterm Vorhang
Und dann hört man eine vertraute Stimme aus dem Off, es ist die der ehemaligen Kanzlerin, die, wie in einem Hörbuch, die Einleitung ihrer Memoiren vorliest. Die Journalistin Anne Will, die den Abend moderieren wird, betritt die Bühne, gefolgt von Merkel selbst, schwarze Hose, weißer Blazer. Baumann fehlt. Diese, so erfährt man, befinde sich hinter der Bühne und werde auch im weiteren Verlauf des Abends im Verborgenen bleiben. Sie hätten unterschiedliche Rollen, erklärt Merkel, sie selbst übernehme die Auftritte in der Öffentlichkeit, „Frau Baumann“ habe andere Aufgaben. Geschrieben hätten sie das Buch aber zusammen, sich über die Komposition verständigt und dann jede ihren Teil zu Papier gebracht und anschließend zusammengefügt. Eine für eine ehemalige Kanzlerin ungewohnte Arbeit: „Am Computer am Schreibtisch zu sitzen“, sagt sie, „war eine neue Erfahrung, weil man das als Bundeskanzlerin nicht macht, da kriegt man alle Schriftstücke vorgelegt“.
Das Publikum begrüßt mit Applaus nun also auch die unsichtbare Beate Baumann. Kurz stellt man sich vor, dass Baumann als Stimme aus dem Off den weiteren Verlauf des Gesprächs kommentieren werde. Doch bleibt die Unsichtbare stumm hinterm Vorhang.
„Wer wollen Sie in Ihrer Geschichte gewesen sein?“, ist die Leitfrage von Anne Will an diesem Abend. Von der Kindheit in der DDR, dem „Schutzraum“, den ihre Familie ihr in der Diktatur bot, über Parteien als „Machtmaschinen“, Ehrgeiz und „unbedingten Machtwillen“, Frausein in der Politik bis hin zu Putin und zum Krieg in der Ukraine, geht Will mit Merkel alle Punkte durch. Wobei zum eigentümlichen Charakter des Gesprächs gehört, dass – seit am vergangenen Wochenende das große „Spiegel“-Gespräch mit dem Merkel-Ausruf „Männer!“ auf dem Cover erschienen ist – bereits so viele Texte, Kommentare und Besprechungen des Buches veröffentlicht wurden, dass sich der Eindruck einer Premiere kaum vermittelt. Vielmehr kommentieren auf der Bühne – das ist der Effekt der großen Buchmarketingmaschine, die jetzt angelaufen ist – beide auch die schon vorhandenen Kommentare zu „Freiheit“. Anne Will gibt bekannt, am Vortag mit Merkel ein Vorgespräch geführt zu haben, das sie als Folge ihres Podcasts „Politik mit Anne Will“ aufgezeichnet habe und noch veröffentlichen werde. Immer wieder kommt sie auf den Podcast zurück, was nicht nur eine aufdringliche Eigenwerbung ist, sondern dem Bühnengespräch auch die Unmittelbarkeit nimmt, indem Will erzählt, was sie Merkel gestern schon gefragt und was diese daraufhin gesagt habe.
Und auch Merkel, sie sich an diesem Abend als fleißige Leserin der zu ihrem Buch erscheinenden Texte entpuppt, steigt ein in die Interpretation der Interpretationen: Was sie ja etwas komisch fände, sagt sie, sei, dass manche nun sagten, es stünde nichts Neues in ihrem Buch, „so ganz großartige Dinger“: „Stellen Sie sich mal vor“, so Merkel zu Will, „ich würde jetzt Sensationen veröffentlichen, was man über mich sagen würde! Man würde sagen, die hat uns die ganze Zeit belogen!“ Das Publikum lacht an dieser Stelle, und Angela Merkel freut sich grinsend über den Zuspruch. Sie tut einfach so, als gehöre das Geheimnis, die Verschwiegenheit (für die sie sich doch selbst so rühmt), die Kontrolle von Informationen, nicht zum politischen Raum, sondern suggeriert, alles hätte immer offen gelegen und ihre Handlungen seien transparent gewesen. Sie sagt dies, um ihre „Ehrlichkeit“ (ein Wort, das sie auch an anderer Stelle verwendet) zu unterstreichen. Denn das soll offenbar ihre Hauptbotschaft sein: Ich, Angela Merkel, war immer „ehrlich“ und habe alle Entscheidungen so getroffen, dass ich sie auch im Rückblick wieder so treffen würde. Non, je ne regrette rien. So verteidigt sie im Gespräch mit Will auch beharrlich ihr Nein zu einer Aufnahme der Ukraine auf dem Bukarester NATO-Gipfel von 2008. Dass es bei der politischen Gestaltung von Zukunft Fehlentscheidungen geben kann, mag anderen passieren, aber offenbar nicht Angela Merkel: „Ist es ein Gütesiegel an sich, dass ich erkläre, dass es ein Fehler war?“.
„Wer schreibt die Geschichte einer Kanzlerin wirklich?“, fragt Anne Will zum Schluss. Merkel hat sich die Antwort schon zurechtgelegt: „Die Geschichte einer Kanzlerin entsteht aus der Vielfalt der Geschichten über die Kanzlerin inklusive der Geschichte von der Kanzlerin und Frau Baumann über die Kanzlerin.“ Im Theaterfoyer sind die Bücherstapel nach der Veranstaltung schon beträchtlich kleiner geworden, und die Leute stehen wieder Schlange.
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