Der große Ästhet des deutschen Fußballs wird 80

Der große Ästhet des deutschen Fußballs wird 80
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Sven Simon/Imago

Er fuhr Ferrari, hatte eine Diskothek und spielte Pässe über das ganze Feld. Doch das Phänomen Günter Netzer lädt auch zu Fehlinterpretationen ein.

Unter den großen deutschen Fußballern ist niemand schwerer zu fassen als Günter Netzer. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, denn Netzer ist ein prominenter Mann. Einer, der sich nicht nur als Fußballer Verdienste erwarb, sondern auch als TV-Kommentator ein gefragter Vermittler war. Und doch bleibt der Zürcher, der am Samstag 80 Jahre alt wird, das große Mysterium des deutschen Fußballs.

Konkurrenz hatte er in den 1970er-Jahren genug: Da war zunächst der geniale Franz Beckenbauer, der jedermanns Liebling war, bis ihn die Bestechungsaffäre rund um die WM 2006 bei seinen Landsleuten in Ungnade fallen ließ. Und natürlich der Kölner Wolfgang Overath, mit dem er jahrelang um einen Platz im Mittelfeld der Nationalmannschaft kämpfte.

Gegner waren sie nur auf dem Platz. Der Profi Netzer – und genau das unterscheidet ihn von seinen Zeitgenossen auf dem Fußballplatz – war viel mehr als ein erfolgreicher Spielmacher. Er war das Ziel vieler Projektionen. „Rebell am Ball“ – so lautete der Titel einer frühen Netzer-Biografie. Der Titel spiegelte lediglich den allgemeinen Eindruck wider. Wer sich mit Netzer jedoch genauer beschäftigt, kommt schnell zu dem Schluss, dass die Aufsässigkeit weder eine Pose noch ein Motiv war. Es war schlicht eine Zuschreibung. Netzer war klug genug, solche Etiketten unkommentiert zu lassen.

Bei der Europameisterschaft 1972 arbeiteten Franz Beckenbauer und Günter Netzer hervorragend zusammen und besiegten die Sowjetunion im Finale mit 3:0.

Horst Müller / Imago

Als Boninsegna wie vom Blitz getroffen zu Boden fiel

Borussia Mönchengladbach: Das war Netzers Verein, mit dem er Meisterschaften und Pokalsiege feierte, oft in einem opulenten Stil, der in Europa fast einzigartig war. Der ganz große Triumph, der Gewinn des Europapokals, blieb dem Verein verwehrt, aber das Scheitern war grandios: 1971 demütigte Gladbach den großen Inter Mailand mit einem 7:1-Sieg auf dessen Heimstadion am Bökelberg. Das Spiel wurde allerdings annulliert, weil ein Zuschauer eine Cola-Dose aufs Spielfeld warf und Stürmer Roberto Boninsegna wie vom Blitz getroffen zu Boden ging.

Ähnlich spektakulär wie Gladbach spielte nur Ajax Amsterdam um den großen Johan Cruyff. Der nationale Rivale FC Bayern wirkte im Vergleich zu Borussia, aus der aufmerksame Zeitgeistinterpreten ein Gegensatzpaar konstruierten, berechnend und behäbig.

Und so wurde Netzer zum Protagonisten feuilletonistischer Betrachtungen, die in einem bis heute gültigen Satz kulminierten: „Netzer kam aus den Tiefen des Raumes.“ Dieser Satz ist eine Abwandlung dessen, was Karl Heinz Bohrer, damals Kulturkorrespondent der „FAZ“ in London, über Netzer schrieb: „Netzer, der plötzlich aus den Tiefen des Raumes vorrückte, hatte ‚Thrill‘. ‚Thrill‘ ist das Ergebnis, das unerwartete Manöver; es ist die Verwandlung von Geometrie in Energie, die Explosion im Strafraum, die einen vor Glück wahnsinnig macht, ‚Thrill‘ ist die Ausführung selbst, der Anfang und das Ende.“

Netzer als GC-Spieler (r.) 1977 im St. Jakob-Stadion gegen den FC Basel, im Duell mit Otto Demarmels.

Photopress-Archiv

1972 spielte er im Viertelfinale der Europameisterschaft sein bestes Länderspiel

Bohrer war kein Kolumnist zweiter Klasse, sondern einer, der auf dem Sprung war, einer der bedeutendsten deutschen Intellektuellen zu werden. Seine Faszination für Netzer wurde genährt durch den 3:1-Sieg der Nationalmannschaft gegen England im EM-Viertelfinale 1972 in Wembley. Damals kam Netzer tatsächlich aus der Tiefe des Platzes und spielte sein bestes Länderspiel für Deutschland. Eines von nur 37, aber der Eindruck war nachhaltig: Bohrers Zeilen waren der Beginn dessen, was man in Deutschland später Fußballkolumne nannte. Sie trugen zur endgültigen Glorifizierung des langhaarigen Spielmachers bei.

Im Jahr darauf folgte ein bis heute nahezu einmaliger Auftritt: Im Finale um den DFB-Pokal gegen den 1. FC Köln wurde Netzer in der Verlängerung selbst eingewechselt. Der Nachmittag verlief für Netzer negativ: In der Woche zuvor war seine Mutter gestorben, zudem war sein bevorstehender Wechsel zu Real Madrid bekannt geworden.

Ernst Huberty, ein brillanter TV-Kommentator, bevor er „Mister Sportschau“ wurde, begann seinen Bericht mit einer Zusammenfassung der Situation: „Das Wichtigste gleich vorweg: Mönchengladbach spielt ohne Günter Netzer. Er sitzt mit der Nummer zwölf auf der Reservebank. Er passt nicht in unser Konzept, sagen die einen, die anderen meinen, er sei im Training im Rückstand. Drittens: Die jungen Spieler, die Jugendlichen sind gegen ihn. Manche halten ihn auch für eine Geheimwaffe. Wir werden sehen.“

Hoch, höher, Netzer: Netzer bejubelt sein Siegtor im Pokalfinale 1973.

Horst Müller / Imago

Die Fans waren gegen Netzer

So war das damals, als Netzer kurz vor seinem Abschied aus Mönchengladbach stand. Die Stimmung unter den Fans sei gegen Netzer gewesen, sagt Rainer Bonhof, sein Teamkollege in Gladbach und in der Nationalmannschaft. Im Team war das allerdings anders: „Eigentlich wollte Günter morgens nach Hause, nachdem er erfahren hatte, dass er nicht in der Startelf steht. Wir Spieler haben dann gesagt: ,Wir brauchen dich, auch wenn du nur auf der Bank sitzt.‘“ Angesichts der 30 Grad im Düsseldorfer Rheinstadion war das verständlich.

Ein einmaliges Tor: Netzer trifft nach seiner Einwechslung.

Youtube

So kam es, dass Trainer Hennes Weisweiler Netzer nach der ersten Halbzeit aufforderte, aufs Feld zu kommen. Doch Netzer winkte ab: Ihn jetzt auszuwechseln, wäre sinnlos.

Erst in der Verlängerung sah Netzer seine große Stunde gekommen. Er fragte seinen Kollegen Chris Kulik, ob er weitermachen könne, doch Kulik verneinte. Also ging Netzer zu Weisweiler und sagte: „Ich spiele jetzt.“ Aus seiner ersten Ballberührung entstand ein Doppelpass mit Bonhof. Und Netzer hämmerte den Ball direkt in die Ecke. Ein unglaubliches Tor, selbst für seine Verhältnisse. Netzer gab später zu, den Ball nicht richtig getroffen zu haben.

Er mochte keine Kopfbälle

Netzers Geste in seinem letzten Spiel für Borussia: eine Rebellion gegen Autoritäten, wie es dem Zeitgeist entsprach? Bis heute prägt das Pokalfinale von 1973 den Eindruck des Regisseurs, von dem viele sagen, in seinen besten Tagen sei er so gut gewesen wie Cruyff. Athletisch, dribbelstark, schnell und dynamisch. Nur Kopfbälle mochte er nicht, wie Netzer einmal amüsiert meinte: Da hätte er genauso gut Handball spielen können.

Trotz Ferrari und eigenem Nachtclub war Netzer keineswegs der Rebell des Fußballs. Und trotz seiner eindrucksvollen Kunstsammlung war er nicht das, was seine Bewunderer in ihm sehen wollten, wie sein Biograf Helmut Böttiger sagt: „Jeder wusste, dass Netzer eigentlich unpolitisch war, und jeder wusste, dass Netzer kein großer Kulturbürger oder Intellektueller war.“

Das Bild, das um ihn herum entstand, war allerdings zu Fehlinterpretationen einladend. Das sah auch Karl Heinz Bohrer so: In der „TAZ“ erklärte er, er wäre nicht unsympathisch gewesen, Netzer als „links“ zu sehen. Als politische Figur habe er ihn aber nie gesehen. Bohrer sah in Netzer das, was Netzer am ehesten ansprechen konnte: den Ästheten auf dem Fußballplatz. Und als solcher ist er bis heute unerreicht.

Mit Gerhard Delling (links) bildete Netzer bei der ARD ein für seine Pointen geschätztes Kommentatorenduo.

Sven Simon/Imago

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