Es ist noch früh an diesem Samstag 1Ist Juni. Die französische Hauptstadt ist gerade erst aufgewacht, doch in der Nähe des Eiffelturms herrscht bereits reges Treiben. Allerdings sind sie keine Touristen. Ein weißer Lieferwagen fährt am Quai Jacques-Chirac hin und her. Drinnen: Mahmud H. (Name geändert) und zwei weitere Männer. Auf dieser mehrspurigen Straße, die direkt am Eiffelturm vorbeiführt, ist das Parken verboten. Die drei Männer wollen jedoch unbedingt mit ihrem Fahrzeug in der Gegend bleiben, sie haben eine Mission zu erfüllen.
Trotz Parkverbot bleibt der Transporter schließlich direkt vor dem Eiffelturm stehen. Mahmud H. und die anderen steigen aus und stellen ihre Ladung auf den Bürgersteig: fünf Särge, jeder bedeckt mit einer französischen Flagge, wie bei einem nationalen Begräbnis, und mit der Inschrift „Französische Soldaten der Ukraine“. Als wären sie Franzosen, die in der Ukraine auf dem Feld der Ehre gefallen sind. Die Bilder der Operation werden anschließend auf dem russischen Nachrichtendienst Telegram die Runde machen.
Polizisten beobachteten den Tatort – ihr Bericht steht in einem Polizeibericht, den wir einholen konnten –, aber die Männer und das Fahrzeug verschwinden, bevor sie eingreifen können. Diese seltsame Aktion sorgt für Aufregung bei der Pariser Polizei. Die Olympischen Spiele stehen vor der Tür, das Land fürchtet Anschläge. Die Polizei fahndet nach dem Fahrzeug und den Männern. Sie fand das Fahrzeug und seinen Fahrer, einen 39-jährigen Bulgaren, schnell. Mahmud H., ein 25-jähriger Berliner palästinensischer Herkunft, und ein 16-jähriger Ukrainer wurden am Nachmittag festgenommen, als sie sich auf die Fahrt mit dem FlixBus nach Berlin vorbereiteten.
Alle drei werden in Gewahrsam genommen, ihre Mobiltelefone werden untersucht. Die Polizei ist schnell davon überzeugt, dass sie auf drei Vertreter eines neuen Typs von Spionen im Auftrag der russischen Geheimdienste gestoßen ist. Eine Art Spion, mit dem alle Sicherheitsbehörden in Westeuropa seit einiger Zeit konfrontiert sind. An diesen Agenten ist in der Tat nichts Orthodoxes: Es handelt sich um Amateure ohne nachrichtendienstliche Ausbildung, schlecht bezahlt und mehr oder weniger willkürlich zusammengestellt.
Einwegspione
In der Nacht vor der Sargoperation war der Fahrer mit dem in Bulgarien gemieteten Fahrzeug aus Sofia angereist. Die anderen beiden Männer kamen aus Berlin. Keiner der drei war den deutschen oder französischen Sicherheitsbehörden bekannt. Mahmud H. erzählte uns später, dass er an der Protestaktion gegen den Krieg in der Ukraine teilgenommen habe, was aber unwahrscheinlich ist. Die drei Männer sind arbeitslos. Den Ermittlungen zufolge wussten sie nicht, wer ihr Sponsor war oder worauf er mit dieser Operation abzielte. Für sie zählte nur das Geld.
Männer wie sie sind ein Albtraum für die Sicherheitsdienste: Sie sind nie auf ihrem Radar aufgetaucht, sie sind nicht politisch aktiv und schon gar nicht als Spione bekannt. Zuvor kannten die Sicherheitsdienste russische Diplomaten, die nur vordergründig Kulturattachés oder Botschaftsmitarbeiter waren und tatsächlich für die Geheimdienste arbeiteten. Viele von ihnen wurden aus den meisten Ländern der Europäischen Union ausgewiesen [UE]und der Kreml hat offensichtlich neue Wege gefunden, Agenten zu rekrutieren.
Die vertraulichen Gespräche, die wir mit Geheimdienstmitarbeitern mehrerer Länder geführt haben, geben einen Eindruck von dieser neuen Rekrutierungsmethode. Russland findet seine Saboteure mittlerweile auf Telegram, Instagram oder TikTok. Seine Geheimdienste suchen im Internet nach jungen, begeisterten Menschen, die es noch nicht sind „auf dem richtigen Weg“, um die Worte eines Angehörigen des deutschen Sicherheitsdienstes zu verwenden.
Bekannte Fälle ermöglichen es uns, ein Modell zu definieren. Es fängt immer klein an: Sie wollen 5 Dollar gewinnen [4,60 euros] in Kryptowährung? Was wäre, wenn Sie ein Tag erstellen würden? Könnte man für 100 Euro ein Foto von so einem Ort machen? Die erste Mission ist erfüllt, weitere folgen, besser bezahlt und riskanter. Und wenn jemand wie Mahmud H. erwischt wird, leiden die Sponsoren kaum. Die deutschen Geheimdienste sprechen daher von Agenten auf niedriger Ebene [“agents de bas niveau”] oder von Einwegmittel [“agents à usage unique”].
Desinformation und Brände
Diese von Russland angeführten Wegwerfagenten sind seit Monaten in Westeuropa im Einsatz. Sie sind eines der Elemente des hybriden Krieges, den Wladimir Putin gegen den Westen führt. Sie besprühen das Holocaust-Mahnmal in Paris mit roten Händen, sie schwenken bei Demonstrationen Schilder gegen die NATO oder den ukrainischen Kampf, die nichts damit zu tun haben, oder sie stellen gefälschte Särge auf.
Wie Putins Trollarmee in den sozialen Netzwerken werden diese Hilfskräfte rekrutiert, um ihre Botschaften auf den Straßen des Westens zu hinterlassen. Diese Operationen scheinen unbedeutend zu sein, aber ihre Häufung zeigt Wirkung. Sie verbreiten Desinformation, säen Zweifel, das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Und das sind nicht die einzigen Missionen, für die diese Hilfskräfte eingesetzt werden.
Andrés Alfonso de la Hoz de la Cruz ist 26 Jahre alt und kommt aus Ciénaga, einer Stadt im Norden Kolumbiens. Nach der Schule und dem Militärdienst begann er in der Landwirtschaft und in einem Steinbruch zu arbeiten, träumt aber offensichtlich von einer besseren Zukunft. Als er eines Tages in einer Telegram-Gruppe zu potenziellen Jobs im Ausland war, fragte ihn ein Russe, ob er in Europa arbeiten wolle. Der Mann ist bereit, seine Reise zu finanzieren. De la Hoz stimmt zu, er geht nach Spanien, dann nach Polen.
Der Russe taucht wieder auf. Er bittet ihn, für 5.000 Zloty, etwa 1.100 Euro, eine polnische Waffenfabrik zu fotografieren. Der junge Kolumbianer willigt ein. Sein Abfertigungsbeamter teilt ihm mit, dass er die Prüfung bestanden hat und gibt ihm sofort seinen nächsten Auftrag: Er soll nach Prag fahren und auf einem Gelände geparkte Busse in Brand stecken. Der russische Vermittler teilt ihm mit, dass der Besitzer der Fahrzeuge seine Versicherung betrügen will. Die Vergütung beträgt 3.000 Dollar [environ 2 800 euros]. Was De la Hoz nicht weiß: Auf dem Gelände befindet sich tatsächlich ein Busdepot des DPP, des Prager Nahverkehrsnetzes.
In der Nacht vom 7. auf den 8. Juli betrat der Kolumbianer den Tatort und zündete zwei Busse an, bevor er von einem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes entdeckt wurde. Es gelingt ihr, das Feuer zu löschen, ihm gelingt die Flucht. Die Polizei gab eine Fahndungsanzeige heraus und konnte ihn schnell finden. De la Hoz ist seitdem in der Tschechischen Republik inhaftiert und muss mit einer Verurteilung wegen Terrorismus und einer Freiheitsstrafe von bis zu zwanzig Jahren rechnen. Die Ermittlungen ergaben, dass zuvor ein weiterer Mann von Russen angeworben worden war, um das Depot zu fotografieren – vermutlich um den Angriff vorzubereiten.
Ein gut geölter Betriebsablauf
Sergejs Hodonovic stand vor Gericht in Riga, Lettland. Den Prozessunterlagen zufolge war dieser junge Lette auch durch kleine Jobs auf Telegram angelockt worden. Die erste führte ihn nach Tallinn, Estland. Mit einem anderen jungen Mann muss er die Inschrift markieren „Killnet hat dich gehackt“ [“Killnet vous a hackés”] an einer Wand. Killnet ist der Name einer Gruppe russischer Hacker, aber für junge Leute bedeutet der Begriff nichts. Sie wissen nicht, dass die Mauer Teil des Cyber-Abwehrzentrums der NATO in Tallinn ist. Auch nicht, dass das Zentrum gleichzeitig Ziel eines Angriffs russischer Cybertruppen ist. Die nächste Mission besteht darin, den Flugplatz der lettischen Luftwaffe in Lielvarde auszuspionieren. Doch dieses Mal wird Hodonovic erwischt.
Den lettischen Behörden gelingt es, den Sponsor zu identifizieren. Es handelt sich um einen jungen Letten, der während seines Verhörs erklärt, dass dies auf Wunsch eines gewissen geschehen sei “Alexander”, suchte und rekrutierte Leute wie Sergejs Hodonovic im Internet und gab ihnen dann Aufträge. Für jeden erfolgreichen Einsatz erhielt er eine Provision, 200 Euro etwa für Fotos vom Militärflugplatz. Einzige Bedingung: Die entsorgbaren Agenten dürfen keine russischen Staatsangehörigen sein. Er verstand, dass er für die russischen Dienste arbeitete. Zu den von ihm zugewiesenen Missionen gehörte das Anzünden von Bränden. Und es gab einige in Europa.
Ende letzten Jahres brannte beispielsweise eine Farbenfabrik im polnischen Breslau ab. Polnische Behörden verhafteten im Januar einen jungen Ukrainer, dem sie vorwerfen, für den Anschlag von russischen Geheimdiensten bezahlt worden zu sein. Im März brannte das Lagerhaus eines ukrainischen Unternehmens im Nordosten Londons ab. Gegen fünf Briten wird wegen Brandstiftung ermittelt. Sie hätten für die russischen Geheimdienste gehandelt.
Im Mai brach in einer Fabrik des Waffenherstellers ein Feuer aus [allemand] Diehl. Der Sachverhalt ist noch nicht geklärt, doch dem amerikanischen Geheimdienst liegen Hinweise vor, die auf einen von Russland gesponserten Anschlag hindeuten. Die deutschen Sicherheitsdienste bestätigen dies weder, noch dementieren sie es. Jedoch, „Es ist jetzt fast unwichtig“, Ihrer Meinung nach, weil die Wirkung aus Sicht der russischen Propaganda bereits hervorragend ist: Ermittler, Geheimdienste, Medien und Bevölkerung spekulieren über die Möglichkeit einer russischen Herkunft, und genau das ist es, was Russland sucht – Sau Zweifel in der westlichen Gesellschaft.
„Gesellschaft spalten“
Nach Angaben eines Mitarbeiters des deutschen Sicherheitsdienstes testen die Russen, wie weit sie mit ihren Einwegagenten kommen können.
„Es ist eine Strategie, die noch viel weiter gehen könnte.“
Mehrere Schilder weisen in diese Richtung. Neuester Fall: der Versand von Brandbomben per Flugzeug. Bisher waren die Folgen nicht allzu schwerwiegend, aber diese netten Pakete waren offensichtlich kurz davor, in der Luft zu explodieren. Mehrere dieser Bomben wurden entdeckt, darunter zwei in Deutschland. Einer hat einen Container im DHL-Logistikzentrum am Leipziger Flughafen angezündet. In Litauen wurde ein Verdächtiger festgenommen, er steht im Verdacht, für die Russen gehandelt zu haben.
Im Jahr 2015 richtete der Geheimdienstkoordinator der Bundesregierung eine Arbeitsgruppe aus Heimatschutz und Nachrichtendiensten zur Bewältigung des von Russland geführten hybriden Krieges ein. Im Jahr 2016 präsentierte die Gruppe a „gemeinsames Lagebild“ vertraulich, die Licht auf Moskaus Propaganda, Desinformation und psychologische Operationen werfen. Die Dienste beurteilten damals bereits, dass Russland sich selbst betrachtete „im offenen Konflikt mit der westlichen Welt“. Sie hat es versucht „Verstärkung der Divergenzen innerhalb der EU“ und von „Die deutsche Gesellschaft spalten“.
Heute ist die Lage klarer und westliche Sicherheitsdienste arbeiten bei der Bewältigung dieser Herausforderung immer enger zusammen. In Deutschland trifft sich eine Arbeitsgruppe namens „Hybrid“, bestehend aus Mitgliedern verschiedener Sicherheitsbehörden, einmal pro Woche im Keller der Geheimdienste, um mögliche neue Fälle zu prüfen.
Und davon gibt es laut Teilnehmern sehr viele. Die Vielzahl der mutmaßlich von Russland gesponserten Einsätze stellt bereits ein Problem dar, da sie erhebliche Ressourcen bei Polizei und Geheimdiensten verschlingt. Und die Behörden sehen trotz ihrer Bemühungen bei weitem nicht alles.
Von der Existenz von Mahmud H. erfuhren sie zum Beispiel erst, als wir sie befragten. Auch in Deutschland war der Sponsor, den die französische Polizei identifizieren konnte, nicht bekannt. Von Frankreich ausgewiesen, ist Mahmud H. zurück in Berlin. Es ist nicht leicht zu finden. Seine Familie sagt, sie wisse nicht, wo er sei. Wir versuchen immer wieder, ihm eine Nachricht zu senden und ihn anzurufen. Manchmal geht er ans Telefon, aber über sein Geschäft möchte er nicht mehr reden. Er fügt nur eines hinzu: Nach der Operation in Paris hatte er bereits eine andere Mission, er musste nach Prag.