Alijaj sitzt aufgrund einer Zerebralparese im Rollstuhl.Bild: KEYSTONE
Der unter Sprachdefiziten leidende Zürcher Nationalrat Islam Alijaj (PS) strebt nichts Geringeres als eine Behindertenrevolution unter dem Bundesdom an. Dabei kann er unter anderem auf seine Wachsamkeit zählen.
22.12.2024, 11:5822.12.2024, 13:08
Reto Wattenhofer / ch media
Wenn die Menschheit zum Mond fliegen kann, warum sollte dann nicht eine Person mit einer Sprachbehinderung dem Nationalrat beitreten? Diese Frage stellt sich Islam Alijaj seit Jahren. Dann tat er, was er seit seiner Einweisung in eine Spezialschule immer getan hatte: sich nicht entmutigen zu lassen und weiterzumachen.
Der Zürcher zog 2023 unter dem Banner der Sozialisten ins Parlament ein. Das Erste für ihn in dieser Sitzung: Er sprach als Sprecher des Ausschusses.
Allerdings ist Islam Alijaj kein Mitglied der betreffenden Kommission. Doch das damals besprochene Thema war für ihn von besonderer Bedeutung.
Deshalb testete er die Lage mit einem Parteikollegen. „Ich wollte diese Angelegenheit unbedingt in den Nationalrat bringen“vertraut er.
Persönliche Erfahrung
Die Revision des Invalidenversicherungsgesetzes liegt ihm am Herzen. Für Menschen mit Behinderung ist es ein «Game Changer»glaubt der gewählte Sozialist. Das Ziel: Kinder mit schweren Autismus-Spektrum-Störungen ab dem Vorschulalter besser zu unterstützen.
„Als ehemalige Förderschülerin weiß ich sehr gut, wie es ist, in den ersten Jahren nicht genügend Unterstützung zu bekommen“
Alijaj sitzt aufgrund einer Zerebralparese im Rollstuhl. Dabei handelt es sich um eine Verletzung, die die Kontrolle von Muskeln und Bewegungen erschwert.
Islam Alijaj ist verheiratet und hat zwei KinderBild: KEYSTONE
Ihre Geschichte ist wie ein Märchen des 21. Jahrhunderts. Alijaj kam im Alter von einem Jahr aus dem Kosovo in die Schweiz. Seine gesamte Ausbildung absolvierte er in einer Fachanstalt. Er ließ sich nie entmutigen und wurde Mitbegründer des Start-ups Monitoris.ai, das im Bereich KI tätig ist. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Wenige Stunden bevor er die Kommission vertrat, wirkte der Zürcher entspannt. Von Nervosität keine Spur. „Ich beherrsche das Fach“, sagt er. Den Kampf gegen die Ungleichheiten, unter denen behinderte Menschen leiden, hat er zu seinem Steckenpferd gemacht. Gemeinsam mit anderen arbeitet er an der Spitze des fraktionsübergreifenden Gremiums der Initiative „Inklusion“. Der Text fordert ein Recht auf persönliche und technische Hilfe.
Hindernisseim Bundesbern
Auch Islam Alijaj müsse Hilfe erhalten, um im Bundeshaus Politik „auf Augenhöhe“ zu betreiben. Es beginnt mit einem Rollstuhl, der im engen Raum des Nationalrats unpraktisch ist.
Der Auserwählte kontrolliert seine Muskeln oder seine Zunge nicht richtig. Er spricht undeutlich. Sein Assistent lässt ihn deshalb keinen Schritt los. Langes Reden erfordert intensive Anstrengung, was den Kontakt mit den Medien erschwert. Dennoch bleibt er ein aufmerksamer Zuhörer, der Fragen errät, bevor sie gestellt werden.
Der 38-Jährige glaubt, lange Zeit unterschätzt worden zu sein:
„Meine Sprachbehinderung sagt nichts über meine Intelligenz aus“
Wenn man ihm zuhört, wird dies sofort bestätigt. Islam Alijaj ist ein wahrer Politiker mit Ambitionen. Er strebt nichts weniger als eine Revolution in der Behindertenpolitik an. „Ich bin kein armes, wehrloses Geschöpf, sondern ein Mann der Macht wie alle anderen hier im Parlament“, sagt er über sich.
Während das Thema für viele eine Nische bleibt, arbeitet er hinter den Kulissen daran, es zu etablieren ein parteiübergreifendes Bündnis zur Reform des Bildungssystems. Erste Gespräche mit dem Lehrerverband und anderen einflussreichen Akteuren haben bereits stattgefunden. „Wenn wir keine Inklusion in der Bildung bekommen, können wir einfach aufgeben.“ Erste Teilerfolge erzielte er mit der Frühförderung autistischer Kinder.
„Eine Branche, die Gewicht hat Milliarde»
Alijaj wirft einen scharfen Blick auf das aktuelle System. „Wir Behinderten sind das Produkt einer Milliardenindustrie, die vom Kredit des Staates lebt.“ Ihm zufolge war sein Weg vorgezeichnet: lebenslang in einer Behindertenwerkstatt beschäftigt, auf Subventionen angewiesen.
Für Alijaj gilt es nun, das Lebensumfeld der Kinder anzupassen und ihr Potenzial voll auszuschöpfen: „Mein Weg muss weit verbreitet werden“, betont er.
(Französische Adaption: Valentine Zenker)