die Fabrik des schlechten städtischen Rufs

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die Fabrik des schlechten städtischen Rufs
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„Marseille, „Hauptstadt des Verbrechens“? Die Wurzeln einer Fantasie“, von Laurence Montel, Champ Vallon, „La selected publique“, 416 S., 27 €, digital 18 €.

Selten war ein Fragezeichen in einem Buchtitel so passend. Mit Marseille, „Hauptstadt des Verbrechens“?stellt Laurence Montel den schlechten Ruf der Stadt Marseille ganzheitlich in Frage. Dieser hartnäckige Ruf, das Bild einer von Verbrechern beherrschten Stadt, macht die Historikerin zum eigentlichen Gegenstand ihrer Forschung.

Vom Anfang des 19. Jahrhundertse Jahrhundert bis in die 1940er Jahre konfrontiert der Autor zahlreiche polizeiliche und justizielle Quellen mit einem sehr breiten Spektrum kultureller Produktionen, von der damals in voller Entwicklung befindlichen Printpresse bis hin zur Populärliteratur. Sie greift auf die Vision krimineller Phänomene der Zeitgenossen selbst zurück, auf die Vorstellungskraft, die sich nach und nach rund um Marseille entwickelt. Auf diese Weise entsteht ein System von Repräsentationen, dessen Auswirkungen auf die betroffene Bevölkerung und die öffentliche Politik nachhaltig sind.

Mit Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen, je nach Wirtschaftslage und aufeinanderfolgenden Einwanderungswellen, beschreibt der Historiker die Veränderungen der Kriminalität in Marseille, ihre Organisationsformen und ihren Einfluss auf die Stadt. Lange Zeit machten uns die sogenannten „Slums“, die auf wenige Straßen beschränkt waren, nicht viel Angst. Doch mit dem enormen Wachstum des Hafens ab den 1850er Jahren beunruhigte das zahlenmäßige Wachstum der Arbeiterklasse die örtliche Bourgeoisie. Bald verließen die Wirtschafts- und Kultureliten die zentralen Bezirke der Stadt, während ihre Feindseligkeit die Presse und Literatur von Marseille befeuerte.

Der Marseille-Nerd

Die Figur des Nerds symbolisiert die systematische Abwertung der Arbeiterjugend, insbesondere ausländischer – dann italienischer – Herkunft. Der anfangs rüpelhafte, müßige und verführerische Nerd aus dem Süden verliert bald jeden sympathischen Aspekt, da sich sozialistische Ideen mit der Armut verbreiten. Der aus Marseille stammende Nerd, der aus Klassen kommt, die heute als gefährlich gelten, wird als brutaler Henker der schmutzigen Werke einer Unterwelt dargestellt, die um die Kontrolle von Prostitution und Glücksspiel kämpft.

Am Rande des 20e Jahrhundert wurde die Gefährlichkeit von Marseille zu einem alltäglichen Thema im öffentlichen Diskurs. Es rechtfertigt das direkte Eingreifen des Staates, das von Marseiller Persönlichkeiten gegen die sozialistische Gemeinde gefordert wird. Die 1930er Jahre, in denen es zu einer Vervielfachung von Rechnungsabrechnungen und bewaffneten Raubüberfällen kam, waren der Höhepunkt der Berichte über weit verbreitete Korruption und die Straflosigkeit lokaler Krimineller – allerdings kaum anders als in anderen Städten, insbesondere in Paris.

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