Der Gast –
Machen Sie Schluss mit dieser giftigen Männlichkeit
Der Schrecken, den Gisèle Pelicot ertragen musste, hat die Menschen tief berührt. Cédric Wermuth fordert Männer auf, auf Gewalt gegen Frauen zu reagieren.
Cédric Wermuth– Co-Präsident der PS Schweiz
Heute um 06:49 Uhr veröffentlicht
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Vor ein paar Tagen habe ich mit unseren Töchtern über ihren beruflichen Werdegang gesprochen. Sie sind sicherlich noch zu jung, um eine endgültige Entscheidung zu treffen. Aber es macht mir Freude zu sehen, wie sie auf eigene Faust alle erdenklichen Möglichkeiten erkunden, vom Bedienen von Baumaschinen bis hin zum Ballett. Dies wäre vor einigen Jahrzehnten kaum vorstellbar gewesen. Was jedoch immer noch unvorstellbar ist, ist das Grauen, das Gisèle Pelicot ertragen musste, weil ihr Mann sie zehn Jahre lang von 50 Männern vergewaltigen ließ. Alles absolut „normale“ Männer. Handwerker, Ladenbesitzer, Ehemänner, Elektriker aus der Nachbarschaft. Die Autoren sind Männer „wie die anderen“.
Dieser entsetzliche Fall beschäftigt seit vielen Wochen die Medien. Auch Gewalt gegen Frauen kommt leider an der Tagesordnung. Jede Frau, die ich kenne, kann aggressives Verhalten bezeugen. Jede dritte Frau erleidet körperliche oder sexuelle Gewalt und alle zwei Wochen tötet ein Mann seine Partnerin oder eine Frau in seiner Familie. Warum macht das nicht jedes Mal Schlagzeilen? Trotz der allgegenwärtigen verbalen, psychischen und physischen Gewalt gegen Frauen gelingt es den meisten Männern, diese zu verbergen – und so eine nach wie vor von Männern dominierte Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Wir machen unsichtbar, was wir nicht sehen wollen.
Das bedrückende Schweigen der Menschen ist systematisch. Ich sehe es selbst. Es fällt mir schwer, über diese Dinge zu sprechen. Wofür? Die ehrliche Antwort lautet: aus Scham. Denn wir alle sind Gefangene einer Form von Männlichkeit, die letztlich Gewalt gegen Frauen legitimiert. Vergewaltigung ist möglich, weil wir in einer Kultur leben, in der Männer Frauen erniedrigen. Männer wachsen mit dem Glauben auf, dass sie Anspruch auf eine höhere Stellung als Frauen in der Gesellschaft und auf ihre Aufmerksamkeit haben. Die Machtverhältnisse in unserer Gesellschaft spiegeln dies wider: Männer besetzen mehr Machtpositionen, sie besitzen mehr Eigentum, sie verdienen mehr.
Auch als Politiker spüre ich diese Erwartungshaltung an „meine“ Männlichkeit jeden Tag. Ich sollte keine Hilfe brauchen, keine Schwäche, Gefühle, Angst zeigen. Stark sein, wie die einsamen Helden der Hollywood-Actionfilme. Aber das ist nicht die reale Welt. Diese falsche Härte zerstört auch uns Menschen. An dieser Forderung nach Männlichkeit können wir nur scheitern. Das baut nur Ärger und Frustration auf, die uns von innen heraus auffressen. Oft äußert sich diese toxische Mischung in Gewalt, die wir gegen uns selbst und andere richten. Diese Zeichen sind tief in uns verwurzelt, niemand kann ihnen so leicht entkommen. Es ist jedoch möglich, da rauszukommen. Doch damit dies geschieht, brauchen wir grundlegende Veränderungen in unserer Kultur, in der Politik, in den Kräfteverhältnissen innerhalb unserer Gesellschaft.
Brechen Sie das Schweigen
Es gibt nichts Ärgerlicheres als die Klagelieder der Maskulinisten dieser Welt, die behaupten, dass den Männern heute alles so schwer sei. Wir können klein anfangen. Beispielsweise indem sichergestellt wird, dass Journalistinnen, Politikerinnen und Experten nicht die einzigen sind, die ihrer Empörung Ausdruck verleihen. Aber obwohl, wie Gisèle Pelicot fragt, die Scham die Seiten wechselt. Dass wir Männer männliche Gewalt als unser Problem betrachten. Dass wir das Schweigen der Männer brechen, dass wir täglich falsche Männlichkeit ablehnen und dass wir der Spirale der Gewalt ein Ende setzen. Ein Anfang wäre, dass Männer morgen Samstag an der Grossdemonstration „Seite an Seite gegen Gewalt und Unterdrückung“ in Bern teilnehmen (Kundgebung um 14 Uhr, Schützenmatte).
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