Verrücktes Box-Spektakel –
58 und Marihuana-Millionär – warum Mike Tyson dennoch zurück ist
Die Boxlegende tritt am Freitag gegen Youtuber Jake Paul an. Weil Netflix live überträgt, ist es viel mehr als nur ein Showkampf.
Publiziert: 14.11.2024, 21:00
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Der Rahmen: Das macht den Kampf spektakulär
Auf den ersten Blick ist es bloss ein ziemlich irrelevanter Showkampf: In der Nacht auf Samstag Schweizer Zeit steigt Mike Tyson gegen Jake Paul in den Ring (ab 2 Uhr). Hier die streitbare Boxlegende, bei deren Eskapaden es überraschen kann, dass sie mit 58 noch am Leben ist. Da der grossmäulige, 27-jährige Youtuber, der seit Jahren versucht, sich als Fighter Respekt zu verschaffen. Der sportliche Wert? Allerhöchstens überschaubar.
Und doch wird gerade so getan, als sei dies der Kampf des Jahres. Natürlich ist das erst einmal PR-Gerede und kann als Strophe im Abgesang auf das Boxen herhalten. Dazu später. Aber da ist auch der Rahmen, der verspricht, Massstäbe zu setzen. 80’000 Zuschauende passen in die Arena im texanischen Arlington, die Veranstalter streben die grösste Indoor-Kulisse bei einem Kampf in den USA an. Viel wichtiger ist allerdings, dass Netflix mit seinen rund 283 Millionen Abonnenten das Duell live überträgt. Das ist tatsächlich spektakulär.
Die Rolle von Netflix: Fernsehen, aufgepasst!
Welche Kraft von Netflix als Plattform ausgeht, zeigt die Formel 1. Dank «Drive to Survive» erlebte die Rennserie einen enormen Popularitätsschub, gerade in den USA, wo sie zuvor ein Nischendasein gefristet hatte. Das Publikum ist jünger und weiblicher geworden.
Seither sind etliche Dokumentationen dazugekommen, wobei kaum eine den Unterhaltungswert von «Drive to Survive» erreicht. Auch deshalb, weil in den grossen Sportarten, die die Aufmerksamkeit nicht nötig haben, den Akteuren weitgehendes Mitspracherecht zugestanden werden muss, damit sie mitmachen. Mit der Folge, dass die Dokus zur langweiligen Hochglanzwerbung verkommen. Eine erfreuliche Ausnahme: «Im Hauptfeld» über die Tour de France.
Lange galt bei Netflix: Sport ja, aber bloss in Form von Dokus. Co-CEO Ted Sarandos sagte 2022: «Wir sind nicht gegen den Sport, wir sind nur für den Profit.» Der Satz stand für die Überzeugung des Unternehmens, wonach es nicht lukrativ sei, um immer teurer werdende Sportrechte mitzubieten.
Nun aber hat bei Netflix mit seinen fast unerschöpflichen Geldreserven ein Umdenken stattgefunden. Der Grund: Netflix sendet jetzt auch Werbung, kürzlich gab das Unternehmen an, dass mehr als die Hälfte seiner neuen Abonnenten einen Tarif mit Werbeeinblendungen wählen. Wenn viele Menschen zur gleichen Zeit dasselbe Programm sehen, kann Netflix mehr Geld für Werbung verlangen. Wie beim klassischen Fernsehen.
An Weihnachten überträgt der Streamingriese zwei Partien der NFL, zu einer besonders attraktiven Zeit, wenn viele Leute vor dem Fernseher sitzen und es im American Football um den Einzug ins Playoff geht. Je 75 Millionen Dollar soll Netflix dafür bezahlt haben. Dazu überträgt die Plattform ab 2025 wöchentlich die äusserst beliebte Wrestling-Show «Raw», der Deal läuft über zehn Jahre und kostet Netflix 5 Milliarden Dollar.
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Und dann ist da noch Tyson vs. Paul, Boomer-Held gegen Generation-Z-Star. Der Kampf verspricht ein breites Publikum anzusprechen. Zumal Netflix keinen Aufwand scheut, ihn zu bewerben. Eine dreiteilige Dokuserie dient als Appetizer, sie gehört in diesen Tagen sogar hierzulande zu den beliebtesten Shows auf dem Streamingdienst.
Tyson: K.-o.-Maschine und Marihuana-Vertreiber
Es ist die stärkste Szene der dreiteiligen Doku. Tyson sitzt auf einer Hantelbank und sagt, er bedaure vieles, was er in seinem Leben angestellt habe. Was er meinen könnte: Er sass drei Jahre wegen Vergewaltigung im Gefängnis, biss während eines Kampfes seinem Gegner Evander Holyfield ein Stück des Ohrs ab, war drogensüchtig und ging pleite. Die Kamera zoomt ganz nah an sein verschwitztes Gesicht, das gezeichnet ist von 58 Kämpfen, für jedes Lebensjahr einer. Der Schlüssel sei, sagt Tyson, mit dieser Reue umgehen zu können. «Du musst weitermachen, immer in Bewegung bleiben.» Im Boxen heisse es, ein bewegliches Ziel sei schwer zu treffen. «Das gilt auch fürs Leben.»
Boxen lieferte schon immer hervorragende Metaphern fürs Leben: hinfallen, aufstehen. Kaum einer verkörpert das wie Tyson. Er wuchs in Brooklyn in Armut auf, geriet auf die schiefe Bahn und wurde mit 13 in eine Erziehungsanstalt gesteckt. So kam er zum Boxen. Erst war es seine Therapie, dann sein Katalysator, mit 20 wurde er zum jüngsten Weltmeister im Schwergewicht und zum Weltstar. Ende Achtziger, Anfang Neunziger waren höchstens zwei Sportler bekannter als er: Michael Jordan und Diego Maradona.
Neben dem Ring wirkt Tyson immer etwas unbeholfen, das mag an seinem Lispeln liegen, aber zwischen den Seilen vermochte keiner so eine Wucht zu entfalten wie er, obwohl er mit 178 Zentimetern klein für einen Schwergewichtler ist. Wie eine Furie stürmte Tyson auf seine Gegner los, 44 seiner 50 Siege gewann er durch K. o., davon 22 in der 1. Runde. Eine unfassbare Bilanz.
Warum bloss lässt sich so einer auf einen Fight mit Paul ein? Die je 40 Millionen Dollar Gage, die beide Kämpfer erhalten sollen, sind natürlich ein Argument. Wobei Tyson in den letzten Jahren als Vertreiber von Marihuana-Produkten erstaunliche Erfolge verzeichnete. «Forbes» schätzt, dass seine Marke im Jahr 2023 einen Umsatz von 150 Millionen Dollar erwirtschaftete. Vielleicht braucht er einfach ein Ziel, auf das er hinarbeiten kann. Damit er in Bewegung bleibt.
Paul: Dank Blödelvideos reich geworden
Als Tyson auf seinem Höhepunkt war, gab es kein Internet, schon gar keine sozialen Medien. Aufsteigergeschichten wie jene von Jake Paul waren noch nicht möglich. Als Teenager in Cleveland, Ohio, bekamen er und sein älterer Bruder Logan, auch er ein Star, vom Vater eine Videokamera geschenkt. Sie sollten sich beim Football filmen, um Fortschritte zu erzielen. Stattdessen drehten sie Blödelvideos, die immer grösseren Anklang fanden. Sie nutzten ihre Popularität, um ein Social-Media-Imperium aufzubauen.
Allein auf Youtube hat Jake Paul über 20 Millionen Follower, auf Instagram 27. Auch er hat Drogeneskapaden und Skandale hinter sich, auch er fand im Boxen einen Lebenssinn. So jedenfalls erzählt er das in der Doku. Seit 2018 kämpft er, zehn Siegen steht eine Niederlage gegenüber. Dass ihn dennoch kaum einer ernst nimmt, liegt an seinen Gegnern. Darunter sind zurückgetretene NBA-Stars und abgehalfterte Mixed-Martial-Arts-Kämpfer.
Der Boxsport: Krise? Welche Krise?
Dass Tyson vs. Paul so gross gemacht wird, kann als Indiz für den Niedergang des Boxens gelten. Tatsächlich machte die Sportart eine gewaltige Krise durch. Jahrelang schafften es die Promoter und Veranstalter nicht, die besten Boxer gegeneinander antreten zu lassen. Dazu kam der Aufstieg der Ultimate Fighting Championship, kurz UFC, der grössten Organisation für MMA-Kämpfe. Boxen drohte die Bedeutungslosigkeit.
Stattdessen befindet sich der Sport wieder im Aufschwung, dank saudischem Geld. In letzter Zeit fanden in Riad etliche spektakuläre Matchs statt, der Höhepunkt: Im Mai kämpften Tyson Fury und Oleksandr Ussyk um den Titel des unumstrittenen Boxweltmeisters, der Sieger vereint die WM-Titel aller anerkannten Boxverbände. Es war das erste Duell dieser Art seit 25 Jahren. Ussyk, der Ukrainer, gewann. Ende Dezember folgt die Neuauflage, natürlich erneut in Saudiarabien.
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Dominic Wuillemin arbeitet als Sportredaktor bei Tamedia und schreibt seit 2010 über Sportthemen – mit Fokus auf Fussball.Mehr Infos
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