Spät an diesem Abend, an dem die Fußballmannschaft des FC Bayern München Kontrolle wiedergewinnen wollte, verlor der Abwehrspieler Minjae Kim sie. Er stand am Pfosten, als er plötzlich aus dem Gleichgewicht geriet. Doch anders als in Birmingham und anders als in Barcelona, wo das Spiel der Bayern früher in der Saison immer wieder aus dem Gleichgewicht geraten war, durfte man diese Szene mit Kim eben nicht als Ausdruck des Kontrollverlusts werten, sondern, im Gegenteil, als Ausdruck des Kontrollgewinns – weil es Manuel Neuer war, der ihn dort sofort nach dem Schlusspfiff des Schiedsrichters mit Handschuhen fest an sich drückte und hochhob.
Im Stadion in München standen sie so für fünf, sechs, sieben Sekunden im Strafraum. Und in der Wiederholung der Szene sah das später nicht nur aus, als würde ein Torhüter seinen Abwehrspieler in den Armen halten, sondern ein Vater seinen Sohn, der etwas Großes geleistet hat. So war das das Bild, das blieb: Weil es aber auch wirklich sehr erwachsen gewesen war, wie Minjae Kim an diesem so wichtigen Abend gespielt hatte.
Am Dienstag, an dem es für den FC Bayern wegen der Pleiten in Birmingham (0:1) und Barcelona (1:4) schon um die Kontrolle seines Schicksals in der Gruppenphase der Champions League ging, hat die Mannschaft von Vincent Kompany im Heimspiel gegen Paris Saint-Germain ihre wohl erwachsenste Leistung in dieser Saison gezeigt und 1:0 gewonnen. Und es war wohl die Geschichte des Spiels, dass der Abwehrspieler Minjae Kim an diesem Abend mit seinem Kopfballtor in der 38. Minute den Unterschied machte.
Als seine Mitspieler schon wieder in der Kabine waren, musste Kim an der Seitenlinie noch mit dem kleinen „Man of the Match“-Pokal posieren. Und weil der FC Bayern sein Schicksal in der Gruppenphase der Champions League fürs Erste wieder unter Kontrolle und sogar eine gute Chance hat, sich als Top-Acht-Team direkt fürs Achtelfinale zu qualifizieren, kann man sich im Anschluss an dieses Spiel der Frage widmen: Minjae Kim als „Man of the Match“ – ist das das Bild, das in seiner zweiten Saison in München bleiben kann?
In seiner ersten Saison in München war es ein Satz, der blieb. Wer in diesen Wochen über Kim spricht, der spricht nämlich nicht nur über Birmingham oder Barcelona, sondern weiterhin über Real Madrid. Im April verschuldete Kim im ersten Halbfinalspiel der Champions League durch einen Fehler im Stellungsspiel das erste und durch ein Foul im Strafraum das zweite Gegentor. Und weil das Spiel deswegen 2:2 endete, sagte der damalige Bayern-Trainer Thomas Tuchel ins Mikrofon: „Zweimal zu gierig – so würde ich das nennen.“ Das war der Satz, der blieb.
Als Vincent Kompany am späten Dienstagabend im Stadion wieder auf Kim angesprochen wurde, antwortete er wieder mit fast denselben Vincent-Kompany-Sätzen, mit denen er schon in der vergangenen Woche geantwortet hatte. Er sagte, dass er seit dem ersten Training ein gutes Gefühl habe, weil er schon damals gesehen hatte, dass die Stürmer im Training nicht so gerne gegen die Verteidiger gespielt hätten. Und er sagte, dass er als ehemaliger Verteidiger wisse, dass man Verteidiger nicht nach einem Spiel bewerten sollte, sondern nach fünf, zehn oder fünfzehn Spielen. Doch er sagte dabei nie den Namen Minjae Kims.
In der Säbener Straße wird daher mit Blick auf Kim, aber auch Dayot Upamecano, in diesen Wochen die Theorie vertreten, die Max Eberl, der Sportvorstand, in der vergangenen Woche vorgetragen hat. Er sagte, dass in der vergangenen Saison „Vertrauen verloren“ wurde, das Vertrauen der Trainer in Kim, aber dadurch auch das Vertrauen von Kim in sich selbst.
Und doch verkaufte Eberl im Sommer Matthijs de Ligt und nicht Kim und Upamecano. Er sagte: „Wir wussten, wenn sie Vertrauen haben, sind sie Fighter, auf die du dich verlassen kannst.“ Was Eberl wohl meint: Im Anschluss an die 1:4-Niederlage in Barcelona sagte Kompany keinen Satz über seine unsicheren Verteidiger, sondern stellte sie weiter auf. Die Bilanz seit Barcelona sieht so aus: Sieben Spiele, sieben Siege – und vor allem: null Gegentore.
Das große Sternchen: die ersten sechs Gegner waren Bochum, Mainz, Union Berlin, Benfica Lissabon, St. Pauli, Augsburg. Und selbst an das Paris-Spiel sollte man ein kleines Sternchen setzen, weil PSG in der 57. Minute durch eine umstrittene Gelb-Rote Karte geschwächt wurde.
Wie wichtig kann und wird Minjae Kim bleiben? Er hat die wichtigsten Werkzeuge: die Geschwindigkeit, den Kopfball und ansatzweise sogar das Passspiel (in dieser Bundesligasaison haben laut der Fußballdatenseite „fbref.com“ nur Joshua Kimmich und Granit Xhaka mehr raumgewinnende Pässe gespielt als Kim). Und: Er kann spielen, spielen und spielen – weil sein Körper das aushält. Vincent Kompany sagte am späten Dienstagabend auf Kim und die Abwehr angesprochen nur einen weiteren Vincent-Kompany-Satz: „Wichtig ist, dass Harry Kane verteidigt, dass Musiala verteidigt, dass Coman verteidigt. Das muss bleiben.“
In den nächsten Tagen wird man womöglich schon sehen, was bleibt. Dann spielen die Kompany-Bayern in der Bundesliga in Dortmund (Samstag, 18.30 bei Sky und im F.A.Z-Liveticker zur Fußball-Bundesliga) und im DFB-Pokal gegen Leverkusen (Dienstag) – und können beweisen, ob sie wirklich schon so erwachsen sind, wie das an diesem Abend gegen Paris Saint-Germain wirkte.