Frankreichs Regierung gestürzt: Dieses Votum gilt Präsident Macron
Die französische Nationalversammlung hat Premier Michel Barnier das Misstrauen ausgesprochen. Dieser erste Regierungssturz seit 1962 zwingt Präsident Macron zum Handeln. Doch er verliert zunehmend die politische Kontrolle.
Es war ein letzter, dramatischer Appell an die Abgeordneten: Sie sollten an das übergeordnete Interesse der Nation denken, erklärte Michel Barnier auf den wichtigsten Fernsehsendern. «Die Situation ist ernst», rief der konservative Regierungschef aus. «Wir müssen aufpassen, denn es gibt starke Spannungen im Land.»
Die Mehrheit der Nationalversammlung war am Mittwochabend anderer Meinung: Das Parlament sprach Barnier mit 331 Stimmen (bei einer Sitzzahl von 577) das Misstrauen in der Frage des Sozialhaushaltes 2025 aus. Der Antrag stammte von der Neuen Linksfront aus Sozialisten, Grünen, Kommunisten und «Unbeugsamen»; das rechtsnationale Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen schloss sich an.
Der konservative Premier muss nun dem Präsidenten seinen Rücktritt einreichen. Macron, derzeit auf Staatsbesuch in Saudi-Arabien weilend, ist für eine Neuernennung an keine Frist gebunden. Er könnte auch Barnier mit der Neubildung der Regierung betrauen. Laut Insidern prüft er aber nur neue Namen.
Die Rede ist von Innenminister Bruno Retailleau, Verteidigungsminister Sébastien Lecornu oder dem Zentrumsdemokraten François Bayrou. Möglich wäre auch die Einsetzung einer Experten-Regierung, wie das Italien eine Weile lang mit Mario Draghi praktiziert hatte.
Das institutionelle Problem bliebe aber in jedem Fall bestehen: Die drei aus den Neuwahlen dieses Sommers hervorgegangenen Blöcke – rechtes RN, Macron-Mitte und linke Volksfront – sind nicht in der Lage, allein eine Mehrheitsregierung zu bilden. Macrons früherer Premier Gabriel Attal schlug deshalb am Mittwoch eine Art Stillhalteabkommen der gemässigten Parteien von den Konservativen bis zu den Sozialisten vor. Dies soll einen weiteren Regierungssturz durch die Rechts- und Linksaussen verhindern.
Die Krise wird zum Dauerzustand
Die Sozialisten wollen aber nur mitspielen, wenn Macron einen linken Premier ernennt – sei das einen moderaten Sozialdemokraten wie Bernard Cazeneuve oder die betont linke Spitzenfunktionärin Lucie Castets. In dem Fall würden aber die Konservativen ausscheren.
Wie man es auch dreht und wendet: Eine solide Regierung bleibt in Paris Wunschdenken. Und Neuwahlen sind aus Verfassungsgründen erst wieder im kommenden Sommer möglich. So lange wird Frankreich mit einer permanenten Regierungskrise leben müssen.
Und mit einer dominanten Figur: Marine Le Pen. Die 56-jährige Rechtspopulistin hat auch den nun erfolgten Regierungssturz orchestriert. Drei Monate lang hatte die RN-Gründerin die minoritäre Mitte-rechts-Regierung von Michel Barnier geduldet. Um ihre Chancen bei den Präsidentschaftswahlen von 2027 zu erhöhen, gab sie sich seit der Nominierung des 73-jährigen Premiers im September sehr staatstragend, sehr republikanisch. Barnier brachte deshalb einige Vorlagen durch.
Am Montag gab Le Pen aber bekannt, dass sie das Sozialversicherungs-Budget zurückweise und einen Misstrauensantrag – in Frankreich «censure» genannt – der Linken mittrage. Das war gleichbedeutend mit dem Todesurteil der Regierung.
Dass Le Pen Barnier fallen lässt, hat zwei Gründe. Zum einen kann sie sich nun als Beschützerin der Senioren geben, nachdem Barnier den automatischen Teuerungsausgleich für Renten um ein halbes Jahr streichen wollte. Zum anderen verlangt die Staatsanwaltschaft im laufenden RN-Prozess wegen Veruntreuung von EU-Geldern Le Pens Unwählbarkeit für mindestens fünf Jahre. Die dreifache Präsidentschaftskandidatin würde damit an einer neuen Bewerbung 2027 gehindert.
Letzter Ausweg Präsidentschaftswahl
Das Urteil, das für Le Pen alles ändern dürfte, ist auf den 31. März angesetzt. Um ihm zuvorzukommen, will Le Pen so schnell wie möglich eine Präsidentschaftswahl provozieren. Der erste Schritt dazu ist der Sturz der Regierung Barnier. Einen zweiten Regierungssturz würde Macron, der sich schon heute im Klammergriff zwischen Le Pen und dem Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon befindet, nicht überleben. Der Präsident ist isoliert, seine Popularität mit 17 Prozent so tief wie bei keinem seiner Vorgänger zuvor. «Der König ist nackt», befand das linke Newsportal Regards diese Woche kurz und prägnant.
Schon heute erschallen immer mehr Rufe, der Präsident solle zurücktreten und die Bahn frei für einen Neubeginn machen. Mélenchons «Unbeugsame» haben in einer Petition zur Amtsenthebung Macrons bereits 378’000 Stimmen gesammelt; auf der Rechten legen nicht nur RN-Abgeordnete, sondern auch liberale Ex-Minister wie Jean-François Copé dem tief gefallenen Staatschef den Abgang nahe.
Sie verweisen darauf, dass Frankreich mehr und mehr auch eine Wirtschafts- und Finanzkrise droht, solange die politische Regimekrise nicht ausgestanden ist. Ein Shutdown wie in den USA ist in einem regierungslosen Frankreich zwar nicht wahrscheinlich: Um ein Haushaltvakuum zu vermeiden und die Beamten weiter zu bezahlen, kann der geschäftsführende Minister einfach das Budget 2024 verlängern. Hingegen ruft die Wirtschafts- und Finanzlage nach beherzten Reformmassnahmen. Auch das soziale Klima ist sehr angespannt. Am Donnerstag gehen in ganz Frankreich die Bediensteten des öffentlichen Sektors auf die Strasse.
Die weitgehend blockierte Lage Frankreichs dürfte sich in den nächsten Monaten kaum entspannen, egal, wer Barniers Nachfolger im Hôtel Matignon wird. Solange Macron im Elysée bleibt und solange Leute wie Le Pen oder Mélenchon in Paris das Wort führen, ist keine Besserung in Sicht.