Erstmals nach dem Koalitionsbruch stellt sich der deutsche Bundeskanzler einem einstündigen Interview. Statt die Fragen zu beantworten, macht er Wahlkampf in eigener Sache.
Caren Miosga hatte am Sonntagabend für ihren ARD-Talk nur einen Gast: Den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz. Das ist ungewöhnlich. Aber aussergewöhnlich ist auch Deutschlands politische Lage. SPD und Grüne haben als Regierung keine Mehrheit im Parlament, dafür aber haben sie je einen Kanzlerkandidaten für die kommende Wahl aufgestellt. Scholz ist einer von ihnen – und er gibt sich bei Miosga erstaunlich selbstbewusst.
Es fängt schon damit an, dass er seinem früheren Finanzminister, dem FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, wüste Vorwürfe macht. Die Erzählung des Kanzlers lautet so: Um die Ukraine finanziell zu unterstützen, habe Lindner eine «Rentenkürzung» ins Spiel gebracht. Er habe sogar den Kommunen «Geld wegnehmen» wollen. Mit ihm, dem sozial verantwortungsbewussten Staatsmann Scholz, sei das aber nicht zu machen gewesen: «Müssen die Bürgerinnen und Bürger, die Rentnerinnen und Rentner das finanzieren? Die Antwort ist nein.»
Fest steht: Nach Ansicht des Kanzlers kann nur durch die Aufnahme neuer Schulden der soziale «Zusammenhalt» erhalten bleiben. Doch er verdreht schon in den ersten Minuten die Tatsachen. Denn Lindner ging es keineswegs um eine Umwidmung von Sozialausgaben zu Militärhilfe – sondern nur um die Anpassung des Rentenniveaus ab dem Jahr 2026. Rentnern Geld «wegzunehmen», um damit ein anderes Land zu unterstützen, ist verfassungsrechtlich nicht möglich. Das weiss Lindner.
Also hakt Miosga nach. Wie steht Scholz zur Schuldenbremse – dem Neuverschuldungsverbot, auf dem Lindner bis zuletzt so vehement beharrte? Auch hier weicht Scholz aus. «Die Schuldenbremse gilt weiter», sagt er. Aber: «Wenn es ganz dicke kommt, dann hat man Möglichkeiten.» Es sei immer «ganz konkret mit der Wahrheit», sagt Scholz. Und paraphrasiert damit, womöglich unbewusst, den russischen Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin.
Für Scholz gibt es nur einen Bösewicht: Christian Lindner
Dabei bleibt seine Aussage abstrakt. Was genau ist für ihn ein Notstand? Ist seine Auffassung mit dem Grundgesetz, der deutschen Verfassung, vereinbar? Und ist er bereit, ein weiteres Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu riskieren, das seine Haushaltsplanung als verfassungswidrig ausweist?
Hier hätte Miosga vom Kanzler eine klare Antwort verlangen müssen. Stattdessen geht sie gleich weiter zum nächsten Thema: Der Vorgeschichte des Koalitionsbruchs. Er habe «bis zuletzt versucht», sagt Scholz, über eine gemeinsame Lösung des Haushaltsstreits zu verhandeln. Doch Lindner habe ein «dickes Papier» geschrieben, «das die Aufkündigung des Koalitionsvertrags beinhaltet».
Scholz, der Diplomat. Immer wieder fasst sich der Kanzler ans Herz, als wolle er zeigen, dass er nichts als die Wahrheit sagt. Doch er verschweigt ein wichtiges Detail. Dass er dem Liberalen daraufhin ein Ultimatum vorlegte, das die Aufweichung der Schuldenbremse zur Bedingung für eine Fortsetzung der Koalition gemacht hat, erwähnt er nicht. Auch Miosga spricht ihn darauf zunächst nicht an. So bleibt der Eindruck hängen, allein die FDP habe den Bruch provoziert.
Dann fängt sich Miosga. Sie fragt: Hat er, Scholz, auch Fehler gemacht, die zum Aus der Koalition mit den Liberalen führten? Scholz fällt auf mehrfache Nachfrage kein einziger Fehler ein. Auf die Frage, ob der öffentliche Affront gegen Lindner wirklich notwendig war, dreht Scholz den Spiess um: «Viele haben öfter, auch in Sendungen wie Ihren, diskutiert, ob ich nicht öfter auf den Tisch hauen sollte».
Das, deutet Scholz an, habe er damit nun getan. Eine bemerkenswert unernste Antwort auf eine Frage, die viele Bürger in Deutschland besorgt und beschäftigt. Vor allem für einen Politiker, den Miosga mit allem Recht einen «gescheiterten Kanzler» nennt.
Vertrauensfrage im Dezember – geht das? «Klar», sagt Scholz
Nun kommt Miosga zur wichtigsten Frage der Sendung: Macht Scholz den Weg frei für Neuwahlen im Januar? «Das ist ja alles nicht so einfach», sagt er. Es dauere nun einmal, bis die Parteien und die Verwaltung so weit wären. Zumal sich der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich und der CDU-CSU-Fraktionschef Friedrich Merz auf einen Termin einigen müssten.
So geht es weiter, bis ihn Miosga förmlich auf eine Antwort festnagelt. Könnte er die Vertrauensfrage, mit der ihm die Parlamentarier das Vertrauen entziehen können, noch vor Weihnachten stellen? Scholz antwortet: «Wenn das alle so sehen, ist das alles kein Problem». Miosga hält fest: «Wenn es im Dezember geht, dann würden Sie es tun.» Scholz sagt knapp: «Klar.»
Dabei hatte er bislang darauf beharrt, er wolle die Vertrauensfrage am 15. Januar stellen. Sollte er sie schon im Dezember stellen, wären Neuwahlen im Februar möglich. Doch er spricht nicht mehr von einem genauen Datum für die Vertrauensfrage oder die Neuwahl. Es geht ihm auch nicht mehr um die Zustimmung von CDU und CSU zu einigen übrig gebliebenen Gesetzesprojekten der Regierung. «Wer kommt denn auf sowas?», fragt Scholz pikiert. Als hätte er das niemals zur Vorbedingung für die Vertrauensfrage gemacht.
Stattdessen sagt Scholz, er wolle ein «neues Mandat» nach der Wahl. Es gäbe schliesslich eine «gute Chance» darauf, sagt er, dass die SPD durch das Votum der Bürger wieder «stärkste Fraktion» werde. Demoskopen könnten sich auch irren. Das habe die Wahl in den USA gezeigt. Offenkundig glaubt der Kanzler an ein Wunder, ähnlich wie 2021, als die SPD vor allem durch die Schwäche der Christlichdemokraten stärkste Kraft wurde.
Miosga lässt ihre Zuschauer ratlos zurück
An dieser Stelle zerfasert die Sendung. Miosga befragt den Kanzler zu allen möglichen Themen, sie liest viele Fragen vom Teleprompter ab. Zuerst will sie seine Sicht auf die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten wissen.
Dann fragt sie ihn nach seiner Meinung zum amerikanischen Tech-Milliardär und Trump-Unterstützer Elon Musk, der ihn als «Narr» beschimpfte. Sie bittet ihn um ein Statement zur Regierungsbildung in Brandenburg, zur Stationierung amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westdeutschland. Scholz äussert sich, wie gewohnt, distanziert.
Bis Miosga wieder auf die Vertrauensfrage zu sprechen kommt. Sie erinnert ihn an seine frühere Aussage aus der Sendung. Ist er bereit, sie «möglicherweise noch dieses Jahr zu stellen»? «Ja, das habe ich gesagt», antwortet Scholz kurz, aber süffisant.
Sichtlich erleichtert beendet Miosga die Sendung. «Gut, dann haben wir das geklärt», sagt sie. Doch geklärt in Wirklichkeit wenig. Wann wird Deutschland neu gewählt? Wie geht es politisch mit dem Land weiter? Das bleibt auch nach dieser Sendung offen.
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