Monate nach dem Unwetter sind die Schäden immer noch allgegenwärtig.Bild: Gerhard Lob
Bei dem Unwetter im Tessin im vergangenen Juni kamen sieben Menschen ums Leben. Besonders betroffen ist das Val Bavona: Es ist nun für Touristen gesperrt und der Zutritt nur noch mit Sondergenehmigung möglich. Bericht aus einem von Katastrophen geprägten Tal.
Gerhard Lob, Cavergno / ch media
Das Verbotsschild ist eindeutig. Kurz hinter Cavergno gilt nicht nur für Fahrzeuge, sondern auch für Fußgänger und Radfahrer ein Zufahrtsverbot. Hier beginnt das 12 Kilometer lange Val Bavona, das in vielen Reiseführern als eines der idyllischsten und beeindruckendsten Täler, aber auch als das steilste und felsigste im Alpenraum beschrieben wird.
Doch seit in der Nacht vom 29. auf den 30. Juni ein Sturm die Region heimsuchte und Schlammlawinen verheerende Schäden anrichteten, ist das Tal für Touristen gesperrt. Anwohner haben nur mit einer Sondergenehmigung der Gemeinde Cevio Zutritt, deren Kontrolle die Polizei übernimmt.
Fiorenzo Dadò hat diese Genehmigung erhalten und nimmt uns mit auf eine Tour durch das Tal. Der 53-jährige Präsident des Tessiner Zentrums stammt aus Cavergno, dem Dorf am Taleingang, und leitet den regionalen Krisenstab. Im Sommer lebt er in Roseto, einem der zwölf Weiler im Val Bavona. Hier war er in der besagten Nacht, als unweit seines Hauses eine Steinlawine niederging.
„Aus irgendeinem unbekannten Grund nahm das Geröll eine andere Richtung. Wir hatten unglaubliches Glück“
Fiorenzo Dadò
Der Schock über das Erlebte sitzt auch nach drei Monaten noch immer tief in ihm. Vor seinem Haus, am Grund des Roseto-Tals, wo normalerweise ein friedlicher Fluss fließt, hat sich ein riesiger See gebildet. Der Fluss ist zu einem reißenden Strom geworden. Große Felsen sind noch immer mit Schutt bedeckt, darunter auch Baumstämme, die vom spektakulären Anstieg des Wasserspiegels um mehrere Meter zeugen.
Rasierte Kapelle
Beim Abstieg ins Tal erreichen wir kurz nach Cavergno den Weiler Mondada, wo schlechtes Wetter die „Capella d’Australia“ dem Erdboden gleichgemacht hat. Es handelt sich um eine Kapelle, die im 19. Jahrhundert von nach Australien ausgewanderten Bewohnern erbaut wurde. Die Madonna-Statue überstand die Witterungseinflüsse und wurde schwer beschädigt im Flussbett gefunden.
„Es sollte in Erinnerung an dieses Ereignis so bleiben, wie es ist, und nicht wiederhergestellt werden“, glaubt Dadò. Er weist darauf hin, dass dies nicht das erste Mal in der Geschichte sei, dass das Tal von einem verheerenden Sturm heimgesucht wurde. Es zeigt eine Inschrift auf einem Felsen: „Gesù Maria 1594 – qui fu bella campagna“. Bedeutung: „Jesus Maria 1594 – hier war eine wunderschöne Landschaft“ – ein klarer Hinweis auf vergangene Verwüstungen.
Fiorenzo Dadò, Leiter des Krisenausschusses.Bild: Gerhard Lob
Überall sind Spuren der Zerstörung zu sehen, obwohl die Talstraße selbst an den kritischsten Stellen provisorisch repariert wurde. In der Nähe von Mondada liegen noch immer Autowracks im Schlamm. Besitzer sollten diese Fahrzeugreste grundsätzlich zurückholen, meint Dadò. Währenddessen sind Arbeiter damit beschäftigt, eine neue Wasserleitung zu verlegen, nachdem die alte völlig zerstört wurde. Für Cevio ist dies eine wichtige Wasserversorgung.
«Brunnenleben»
Das Ausmaß der Katastrophe wird besonders in Fontana deutlich, wo die Grotto di Baloi schon immer ein angenehmer Zwischenstopp war. Die aus einem Seitental abgebrochenen Geröllmassen begruben einen großen Teil dieses Weilers. Am Rande der Erdrutsche blieben stark beschädigte Häuser stehen. Dadò zeigt eines dieser Gebäude:
„Drei Frauen starben hier, und unten, in der Nähe des Flusses, gab es zwei weitere Opfer.“
Fiorenzo Dadò
Neben dem Haus gibt es einige Blumen als Andenken. Und trotz allem gibt es mitten im Geröll ein Zeichen der Hoffnung, auf einem Balkon sehen wir ein Transparent: „Fontana vive“ („Fontana lebt“).
Wo eine grüne Wiese war, erstreckt sich ein Teppich aus Trümmern. Von der römischen Bogenbrücke über den Fluss ist nur noch ein Rohbau übrig. Ein Bagger bewegt hier Steine, in unmittelbarer Nähe eines riesigen Felsens, der in der Nacht der Tragödie den Berg hinunterrollte. Dadò scheint neben diesem Felsen ein Zwerg zu sein, vielleicht 15 Meter hoch.
„Dieser Felsen ist ein Symbol für die Nacht des Sturms. Es muss ein Ort der Erinnerung werden“
Fiorenzo Dadò
Insgesamt starben im oberen Maggiatal sieben Menschen an den Folgen der Wetterkapriolen. Eine Person wird heute noch vermisst.
Wiedereröffnung für Touristen
Was passiert als nächstes? „Das Wichtigste ist, die Talstraße zu sichern“, antwortet Dadò. Ziel ist es, das Tal im nächsten Frühjahr wieder für den Tourismus zu öffnen. Orte wie Foroglio mit seinem berühmten Wasserfall werden dann wieder zugänglich sein. Im Moment sind diese Orte menschenleer, der Parkplatz völlig leer und die Grotti geschlossen.
Eine Wasserleitung wird repariert.Bild: Gerhard Lob
Die Gemeinden Cevio und Lavizzara haben mit ihrer eigenen Sammlung bereits 4,5 Millionen Franken gesammelt. „Es ist sehr gut, aber es ist erst der Anfang“, sagt Fiorenzo Dadò. Insbesondere der Wiederaufbau des Weilers Fontana würde viele Ressourcen, aber auch viel Zeit erfordern. „Es wird Jahre dauern“, fügt er hinzu. Für das Projekt muss ein Koordinator eingestellt werden.
Im Winter ist das Tal nicht bewohnt. Aber zwei weitere wichtige Probleme müssen gelöst werden. Der Kanton muss die Gefahrenkarten neu erstellen. Dies könnte dazu führen, dass Gebiete als unbewohnbar eingestuft werden, auch wenn sie inzwischen von der Witterung verschont geblieben sind. Darüber hinaus müssen sich die Behörden um die Sicherung von Gewässern, beispielsweise durch gezielte Baggerungen, kümmern, um die Gefahr von Überschwemmungen zu minimieren. An Arbeit mangelt es in dieser Bergregion wirklich nicht.
Übersetzt und angepasst von Noëline Flippe