ERZÄHLUNG. Parlamentswahlen 2024: Auflösungsschock, Ciotti-RN-Abkommen, Volksfront … die Geschichte dieser sieben Tage, die Frankreich erschütterten

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das Essenzielle
Die Woche vom 9. bis 15. Juni wird zweifellos eine der bedeutendsten im politischen Leben der letzten zehn Jahre sein. Es könnte sogar die politische Landschaft der Fünften Republik nachhaltig verändern.

D-1: Sonntag, 9. Juni

Gabriel Attal ist wütend … Er sitzt dem Präsidenten der Republik gegenüber und hat Mühe, sich zu beherrschen. Emmanuel Macron hat ihn gerade darüber informiert, dass Artikel 12 der Verfassung aktiviert wurde. Der Premierminister war an der Entscheidung nicht beteiligt, er war nicht einmal der Erste, der davon erfuhr. Erst später erfährt er von der Existenz einer Zelle, die seit Wochen im Auftrag des Élysée an diesem Szenario arbeitet… Das Treffen der beiden Männer verläuft schlecht. Ein Ministerberater erzählt uns von „einem aufgeregten Präsidenten“ und einem Premierminister, der „viel bösartiger als gewöhnlich“ sei. Letzterer möchte zurücktreten. Der Präsident rät ihm davon ab. Doch auf den Fotos, die der Élysée-Fotograf wenige Stunden später machen wird, sehen wir Gabriel Attal mit verschränkten Armen und dunklem Blick. Während die Franzosen noch über die Ergebnisse der Europawahl debattieren, stürzt sich die Regierung gerade ins Ungewisse und ist dem Rest des Landes um einige Stunden voraus. Es ist Punkt 21 Uhr, als der Präsident auf den Bildschirmen erscheint: „In Frankreich erreichen Vertreter der extremen Rechten fast 40 % der abgegebenen Stimmen […]. Es ist eine Situation, mit der ich nicht umgehen kann. […]. Deshalb löse ich die Nationalversammlung auf.“ … Wie beim russischen Roulette hat Emmanuel Macron gerade den Lauf der Geschichte verändert.

D1: Montag, 10. Juni

Die Fernseher blieben lange eingeschaltet. Im Anschluss an die Ankündigung des Präsidenten folgten die Reaktionen einen Teil der Nacht lang aufeinander. Sowohl Marine Le Pen als auch Jean-Luc Mélenchon begrüßten die Entscheidung des Präsidenten. Von einem gefährlichen Spiel sprachen hingegen Raphaël Glucksmann und François Ruffin, letzterer bezeichnete den Staatschef gar als „Verrückten“ und „Brandstifter“. Frankreich wacht benommen auf. Vom Morgengrauen an häuften sich im Radio die Berichte über die Worte fassungsloser und wütender Franzosen. An den Café-Schaltern geben wir Emmanuel Macron die Schuld. Das Élysée macht sich langsam Sorgen über die Reaktionen von allen Seiten. Von den Schlossberatern werden Journalisten eingeladen, die die Entscheidung des Präsidenten noch einmal erläutern wollen.

In der Parteizentrale begannen die Versammlungen im Morgengrauen. Links wie rechts kommt es darauf an, in die Schlachtordnung zu kommen. Die LR stellen ihre Strategie in Frage, während die RN eine Annäherung an Reconquête versucht. Die Sozialisten fragen sich, ob es noch möglich ist, sich mit Jean-Luc Mélenchon zu vereinen, als uns einige Tage zuvor einer der Führungskräfte anvertraute: „Wir wollen uns niemals seinen Positionen anschließen.“

Die ersten Gespräche beginnen separat, doch zur Snackzeit trifft sich LFI mit seinen Partnern in der Grünen-Zentrale. Die Sozialisten kamen schließlich mit zwei Stunden Verspätung an. Die Diskussionen ziehen sich hin. Um 20 Uhr lädt sich Raphaël Glucksmann zur Zeitung France 2 ein. Er zieht entschieden mehrere rote Linien, die jede Allianz mit LFI auszuschließen scheinen. Doch zwei Stunden später erwacht die Rue des Petits Hôtels im 10. Arrondissement von Paris plötzlich zum Leben. Mehrere hundert junge Aktivisten fordern einen Zusammenschluss der Linken. Marine Tondelier, die Chefin der Grünen, kommt, um die Truppen zu beruhigen. Ein Deal steht kurz vor dem Abschluss. In der Nacht zogen die Linken hinter dem Rücken des Chefs der Place Publique einen Schlussstrich unter ihre Differenzen.

Republikanischer Chef Eric Ciotti
AFP

D2: Dienstag, 11. Juni

Politjournalisten sind nervös. Für diesen Tag ist eine Pressekonferenz von Emmanuel Macron geplant. Doch um 10 Uhr morgens, als die Redaktionssitzungen endeten, gab es immer noch keine Informationen über Ort und Uhrzeit. Die Zeit bleibt nur für ein paar Sekunden stehen, denn sehr schnell explodiert die Besucherzahl der Figaro-Website. Aus vertraulichen Informationen geht hervor, dass Eric Ciotti im Begriff ist, eine Vereinbarung mit … dem RN bekannt zu geben.

Die Pressekonferenz des Präsidenten wird sofort auf den nächsten Tag verschoben. „Es ist ein Moment der Klärung, wir müssen den Staub ruhen lassen“, erklärt ein Berater des Präsidenten gegenüber La Dépêche. In den 13-Uhr-Nachrichten bestätigt der LR-Chef seine Entscheidung. Gegen letzteres steht die gaullistische Familie geschlossen auf. Von Gérard Larcher bis Valérie Pécresse über Xavier Bertrand und insbesondere Laurent Wauquiez ist die Empörung allgemein. Am selben Abend wurde Jordan Bardella zum 20-Uhr-Set von France 2 eingeladen. Er beseitigte alle Unsicherheiten: „Es wird eine Einigung zwischen der RN und den Republikanern geben.“ […] mit mehreren Dutzend gewählten Amtsträgern von LR, die investiert oder unterstützt werden“, versichert er.

D3: Mittwoch, 12. Juni

Wenige Meter vom Olympia entfernt wurden entlang der Rue Cambon Absperrungen errichtet. Die Spürhunde und ihre Herrchen sind bereit, die Taschen der zur Pressekonferenz des Staatsoberhauptes eingeladenen Journalisten zu inspizieren. Zeit und Ort wurden schließlich am Vorabend festgelegt. Um 9:30 Uhr wurde im Espace Cambon ein Termin für eine Rede um 11:00 Uhr vereinbart, Sicherheit erforderlich. Emmanuel Macron ist kaum 20 Minuten zu spät. Hinter seinem weißen Schreibtisch beginnt er: „18 Tage vor der ersten Runde der Parlamentswahlen wollte ich mit Ihnen sprechen.“ Eineinhalb Stunden lang wird Emmanuel Macron die Gründe, die ihn zu seiner Auflösung bewogen haben, die Grundzüge des Programms, das er den Franzosen vorschlägt, und vor allem die Strategie, neue Partner für sich zu gewinnen, um seine Mehrheit auszubauen, noch einmal erläutern.

Um mit seiner verrückten Wette Erfolg zu haben, muss der Präsident tatsächlich die gemäßigte Linke und Rechte davon überzeugen, sich hinter ihn zu stellen. Gewählte Beamte, an die er sich seit drei Jahren wendet und die sich hartnäckig weigern. Aber Emmanuel Macron hofft, dass die Angst vor der Ankunft der RN in Matignon die Situation ändert, wenn nicht bei den gewählten Amtsträgern, so doch bei den Wählern aus diesen beiden Lagern. Er besteht daher darauf: zwischen „einer republikanischen Rechten“, deren Anführer „gerade einen Pakt mit der extremen Rechten geschlossen hat“ und „einer republikanischen Linken, die …“ […] sich mit der extremen Linken verbündet hat, die Antisemitismus und Antiparlamentarismus demonstriert hat“, wäre die einzige Alternative ein zentraler Block bestehend aus „ernsthaften demokratischen und republikanischen Kräften“.

Anschließend beginnt der Präsident mit einer Liste von Projekten im Prévert-Stil, die er verteidigen will: Kampf gegen illegale Einwanderung und Hausarrest, große Debatte über Säkularismus, Einschränkung der Nutzung von Bildschirmen für junge Menschen … Journalisten nehmen zu. Während sie den Blick auf ihr Telefon richten, entdecken sie, dass Eric Ciotti beschlossen hat, das LR-Hauptquartier abzuriegeln. Er selbst ist nirgends zu finden. Am Nachmittag trifft sich das politische Büro der Partei vor den Mauern, um für den Ausschluss des Präsidenten zu stimmen, dessen Linie niemand teilt. Am Ende des Nachmittags werden Aurélien Pradié und Annie Genevard, die Generalsekretärin, die Räumlichkeiten in Besitz nehmen. Ein paar Meter entfernt hat Marion Maréchal gerade den RN-Kandidaten ihre Unterstützung zugesagt. Noch am selben Abend, live von BFM, wurde sie von Reconquête ausgeschlossen! von Eric Zemmour.

D4: Donnerstag, 13. Juni

Der Tag beginnt mit einem Tweet: „Ich bin in wenigen Augenblicken in meinem Büro.“ Mit diesen Worten lässt Eric Ciotti die Seifenoper vom Vortag neu aufleben. Der Beweis kommt ein paar Stunden später: Der LR-Chef veröffentlicht ein Video, das zeigt, wie er zu epischer Musik in sein Büro im LR-Hauptquartier zurückkehrt. Er versichert, dass der Ausschluss aus dem politischen Amt am Vortag keinerlei rechtliche Bedeutung habe. Mittags isst er mit Jordan Bardella zu Mittag, der ihm 70 Wahlkreise garantiert. Weiter nördlich von Paris, in der Rue des Petits Hôtels, konklavieren die linken Parteien immer noch unter dem Druck der Straße. Vor dem Hauptquartier der Grünen stehen Aktivisten einer Antisemitismus-Bewegung, die die Unklarheiten der LFI gegenüber Israel anprangern, Mitgliedern der CGT gegenüber. Aber im Inneren geht es voran. Gegen 20 Uhr kam die Nachricht: Die Parteichefs hatten sich auf ein einheitliches Programm und Kandidaten in allen Wahlkreisen geeinigt. Die Einzelheiten werden bis zum nächsten Tag warten, aber diese Allianz wird bereits von … François Hollande unterstützt. Die Zeiten beruhigen sich, die Franzosen atmen auf. Ein wenig.

Der Stellvertreter des Nordens Adrien Quatennens
AFP

D5: Freitag, 14. Juni

In den Gärten des Maison de la Chimie machen sie eine Pause vor den Fotografen. „Es ist ein historischer Moment“, wiederholt Manuel Bompard. Nach viertägigen und viertägigen Verhandlungen legten die Linksparteien ein detailliertes Programm vor. Der 7. Oktober wird als „Hamas-Terrormassaker“ bezeichnet, eine von Raphaël Glucksmann geforderte Formulierung, die LFI bisher stets abgelehnt hatte.

Die Neue Volksfront verspricht außerdem, „unerschütterlich die Souveränität und Freiheit des ukrainischen Volkes zu verteidigen, „die Preise für Grundbedürfnisse wie Lebensmittel, Energie und Treibstoff zu blockieren“ und „die für den 1. Juli geplante Erhöhung der Gaspreise abzusagen“. Der Mindestlohn wird auf 1.600 Euro netto erhöht und die personalisierte Wohnhilfe (APL) wird um 10 % erhöht. Die Linke verspricht endlich, die Rentenreform aufzuheben. Auf der rechten Seite hat die Justiz den Ausschluss von Eric Ciotti ausgesetzt.

François Hollande gibt an diesem Samstag in Tulle seine Kandidatur bekannt.
François Hollande gibt an diesem Samstag in Tulle seine Kandidatur bekannt.
AFP – PASCAL LACHENAUD

D6: Samstag, 15. Juni

In Paris wie in Toulouse heizten die Merguez-Verkäufer vom Morgengrauen an die Grills an. Es wird erwartet, dass es in ganz Frankreich zu erheblichen Demonstrationen gegen die Nationalversammlung kommen wird. An diesem grauen Samstagmorgen schaffen sie es jedoch nicht, Schlagzeilen zu machen. Dies sind die Namen von drei Rebellen, die ganz oben auf den politischen Seiten erscheinen. Raquel Garrido, Alexis Corbière und Danielle Simonnet, ehemalige Säulen der LFI, werden von ihrer Partei nicht reinvestiert, weil sie Jean-Luc Mélenchon in den letzten Monaten die Stirn geboten haben. Den kostbaren Stempel erhält hingegen der wegen häuslicher Gewalt verurteilte Adrien Quatennens. Noch keine 24 Stunden besteht die Neue Volksfront, schon gerät sie ins Wanken, zumal in der Nähe von Tulle erneut eine Explosion zu hören ist: François Hollande kündigt dort unter dem Banner der Volksfront seine Kandidatur an. Die PS bestreitet dies zunächst und gibt ihr schließlich statt. Unter der Sonne von Nizza ist Eric Ciotti im Wahlkampf.

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