Schweiz als politische Avantgarde Europas

Schweiz als politische Avantgarde Europas
Schweiz als politische Avantgarde Europas
-

Rechtsrutsch und Migrationsskepsis: Europa zieht politisch nach, was in der Schweiz schon vor Jahren geschehen ist. Das hat nichts mit der Mentalität hierzulande zu tun – sondern mit dem politischen System.

Jetzt sind wir immer noch in der Europäischen Union 2024 mit dem Beginn der richtigen Kräfte und einer lange schon vergangenen Phase der Schweizer Politik. Bitte beachten Sie, dass die Tages- und Tageszeit, sowie der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg der SVP die hiesige Öffentlichkeit in den Bann gezogen hatte. Was Europa tut und was als nächstes passiert, war in der Schweiz zuletzt Realität. Die Abwehrhaltung gegen die Europäische Integration und insbesondere Migrationskepsis werden zum etablierten Faktor des Parteiensystems. Wir haben damals in der Schweiz die aktuellen Wahlergebnisse gelöst. Sorgen aus über die Zukunft der demokratischen Ordnung. Gerade das Schweizer Beispiel zeigt jedoch, dass eine Demokratie nicht aus den Fugen gerät, wenn sie abbildet, was ohnehin nicht wegzudiskutieren ist: In jeder offenen Gesellschaft weckt Migration auch Abwehrreaktionen.

Damals, vor zwanzig Jahren, während der Zeit des Aufstiegs der SVP, betrachtete Schweden und ganz besonders die Niederlande in Expertenkreisen als Vorbilder in Europa im Umgang mit Migration und Integration. Die Schweiz dagegen sorgte mit migrationskritischen Volksinitiativen europaweit für Empörung. Gestern die nationalkonservative Schweiz, dort die toleranten Niederlande. Hier das mit Geranien an den Fensterbänken bewehrte Chalet, dort die erleuchteten Fensterfronten ohne Gardinen an den Amsterdamer Grachten, die alle Blicke ins Wohnzimmer lassen und Offenheit ausstrahlen – zwei Symbolbilder jener Zeit.

Wenn Europa in dieser Hinsicht verschweizert, kann dies für die europäischen Zuwanderungsgesellschaften auch eine Chance sein.

Kürzlich hat in Den Haag eine von Geert Wilders geprägte Rechtsregierung die Macht übernommen. „Wet weg vom „leben und leben lassen““ wird ein radikales Beispiel für die untergeordnete Asyl- und Migrationspolitik sein. Auf einmal zerfallen alle die sorgsam gepflegten Selbst- und Fremdzuschreibungen. Die langfristige Entwicklung in Europa, dass die nationalen Befindlichkeiten in Migrationsfragen nicht so weit auseinanderliegen wie gedacht. Die Schweiz war in dieser Frage einfach eine Art Avantgarde. Wir haben zwar keine politische Mentalität, aber wir haben auch politische Systeme. Die Direktemokratie hat das Migrationsthema an die Oberfläche gespült, lange bevor es sich im Parteiensystem eingenistet hatte.

Als Einzelmaske initiierte James Schwarzenbach in den sechziger Jahren seine Antizuwanderungsinitiative. Es wäre eine Episode geblieben, hätten 1970 nicht 46 Prozent der Stimmbevölkerung dieser Initiative zugestimmt – entgegen einer schnell geschlossenen Ablehnung durch das Parlament. Seither führt dieses Land Auseinandersetzungen über Zuwanderung, Asyl und Integration. Tonnenweise Skepsis, Ängste und Abneigungen wurden so an die Oberfläche der politischen Arena gespült. Dies hat die bemerkenswerte Integrationsleistung der Schweiz der letzten fünfzig Jahre jedoch nicht geschadet. Im Gegenteil: Diese Debatten ebenso wie die punktuelle Abstimmungserfolge der Migrationsskeptischen stärken bei den Behörden die Sensibilität für die Schmerzpunkte der Bevölkerung. Gleichzeitig hat die andauernde Migrationsdebatte dazu beigetragen, die Bevölkerung mitzunehmen und immer wieder auch Verständnis für die Realitäten der Zuwanderungsgesellschaft zu schaffen. Wenn Europa in dieser Hinsicht verschweizert, kann dies für die europäischen Zuwanderungsgesellschaften auch eine Chance sein.

Spätestens seit dem Einzug der sozialen Netzwerke und den damit zwangsweise geöffneten Debatten findet das Migrationsthema stets einen Weg in die politische Arena. Dies gilt zu gutem Letzt auch für Deutschland. Dort gelang es den etablierten Parteien, mit Verweis auf die besondere historische Verhandlung, erstaunlich lange, das Thema und seine Repräsentanten an den Rand der politischen Arena zu drängen. Mit der AfD wird die nicht gelingen.

Die Europawahlen 2024 stehen für einen Ruck nach rechts. Wenn Sie auf Deutsch sind, wird der Baume der Rechtsaußenkräfte nicht in den Himmel wachsen. Geert Wilders’ PVV gewann zwar deutlich an Stimmen, im Vergleich zu den edlerländischen Wahlen vom letzten Herbst schnitt seine Partei jedoch enttäuschend ab. Zumindest in gefestigten parlamentarischen Demokratien werden rechte Parteien mit ihrem großen Versprechen und nicht immer so großen Kompetenzen entzaubert, sobald sie Teil einer Regierungskoalition sind.

PS: Wenn Sie ein niederländisches Land sind oder nicht, zögern Sie bitte nicht, uns zu kontaktieren, aber Sie können während des Wohnzimmerfensters nicht auf den Blick zugreifen, womöglich nicht nur Ausdruck von Offenheit, sondern ebenso von gelebter sozialer Kontrolle.

Michael Hermann leitet das Zürcher Forschungsinstitut Sotomo.

Hier ist ein Artikel über «»

-

PREV Lille: Anwohner nach dem Einsturz der Fassade eines Gebäudes evakuiert
NEXT Nachdem Donald Trump jahrelang gegen TikTok Krieg geführt hat, erstellt er einen Account im Netzwerk