Trump oder Harris – die USA vor der Zerreißprobe

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Washington ist auf das Schlimmste vorbereitet. Schon vor Wochen haben vor dem Kongressgebäude die Bauarbeiten begonnen. Wie alle vier Jahre wird auf den Stufen des Kapitols eine riesige hölzerne Tribüne für die Amtseinführung am 20. Januar errichtet. Diesmal aber ist das Areal auf dem Kapitolshügel weiträumig abgesperrt. Die Behörden wappnen sich, sollte es am 6. Januar wieder gewalttätige Ausschreitungen geben, wenn der Kongress zur Beglaubigung des Wahlsiegers zusammenkommt. Die Sicherheitskräfte, die dem Mob seinerzeit ausgeliefert waren, würden beim nächsten Mal sofort einschreiten.

Die Nervosität ist groß. Dass Trump zum Äußersten bereit ist, ist hier allen bewusst. Für den verurteilten Straftäter steht womöglich seine persönliche Freiheit auf dem Spiel. Sollte er verlieren, müsste er sich mehreren Strafverfahren stellen, die er als Präsident zumindest zum Teil abwehren könnte. Die Nachfrage nach Notfallübungen für Kongressmitarbeiter ist in den vergangenen Monaten gestiegen. Was tun, wenn ein Gefährder ins Gebäude eindringt? Wo Schutz suchen? Solche Fragen schienen bis zum 6. Januar 2021 abstrakt. Doch die Bilder von Angreifern, die Beamte der Kapitolspolizei attackierten, Fenster einschlugen und durch die Gänge des Kongresses zogen, sind den Amerikanern seither unauslöschlich im Gedächtnis.

Donald Trump war nach seinem Versuch, den friedlichen Machtwechsel vor vier Jahren zu verhindern, von vielen schon als geächteter Aufrührer abgeschrieben worden. Doch er überrollte die Republikaner im Winter in den Vorwahlen und ließ sich abermals auf den Schild heben. Im Sommer dann überraschten die Demokraten mit ihrem späten Wechsel von Joe Biden zu Kamala Harris. Nun ist das Rennen zwischen den beiden Kandidaten so knapp, dass kein seriöser Beobachter eine Prognose wagen kann.

Ein Funke könnte genügen, um landesweite Unruhen zu entfachen

Trump lässt in dieser angespannten Stimmung bewusst Raum für Eskalation. Während seines Auftritts im Madison Square Garden in New York wiederholte er jüngst seine Warnung vor einem „inneren Feind“, der nach der Wahl Chaos stiften könne. Man stehe einer „bösartigen, linke Maschinerie“ gegenüber, die besiegt werden müsse. Wie vor vier Jahren behauptet er, die Stimmen für einen Sieg schon beisammenzu­haben – jetzt gelte es nur, sicherzustellen, dass „die andere Seite“ nicht be­trüge.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

In Zeiten einer historischen Polarisierung könnte ein Funke genügen, um landesweite Unruhen zu entfachen. 2020 dauerte es vier Tage, bis Bidens Sieg nach der Wahl offiziell verkündet wurde. Seither haben viele Bundesstaaten nachgerüstet, um Briefwahlstimmen schneller auszuzählen. Doch für Trump wäre es ein Leichtes, ein spätes Ergebnis für eine weitere Lüge des Wahlbetrugs oder einen verfrühten Siegesruf zu nutzen. Seit Monaten streut er Zweifel an der Integrität des Wahlprozesses. Selbst Harris äußerte kürzlich die Erwartung, Trump werde sich am Wahlabend unabhängig vom Ergebnis zum Sieger er­klären.

Wie schnell Falschnachrichten zur realen Bedrohung werden können, zeigte sich kürzlich in den vom Hurrikan Helene verwüsteten Gebieten. Nachdem Trump wiederholt behauptet hatte, der Katastrophenschutz lasse hilfsbedürftige Amerikaner im Stich und vergebe stattdessen Geld an Migranten, wurden Helfer von bewaffneten Per­sonen bedroht. Eine ähnliche Dynamik könnte sich entwickeln, wenn Trump nach dem 5. November abermals von einer „gestohlenen Wahl“ spricht. Im Nordwesten der Vereinigten Staaten brannten jüngst zwei Wahlbriefkästen; das FBI ermittelt.

Wahrscheinlicher als Randale im demokratisch geprägten Washington sind zunächst Eskalationen an der Basis: Angriffe auf Wahllokale, das Stören der Stimmauszählung, möglicherweise auch gewaltsame Demonstrationen. Aus gutem Grund haben viele Bundesstaaten und Bezirke in den vergangenen Monaten die Sicherheitsvorkehrungen für den Wahltag verstärkt. Wahlhelfer wurden in Deeskalation geschult, Wahllokale mit Panikknöpfen und schusssicherem Glas ausgestattet. Politische Gewalt gilt inzwischen als so wahrscheinlich, dass es schwieriger wird, genügend freiwillige Helfer zu finden.

Gerade weil die Machtverhältnisse in Washington anders sind als vor vier Jahren, setzt Trump darauf, Druck von un­ten aufzubauen. Diesmal ist er vorbe­reitet: Was damals improvisierte Ver­suche waren, das Wahlergebnis zu kippen, sind heute ausgeklügelte Strategien. Die Republikaner haben eine loyale Armee eigener Wahlbeobachter mobilisiert und loyale Beamte in den besonders umkämpften Bundesstaaten platziert. Sowohl Trump als auch Harris sind auf langwierige juristische Auseinandersetzungen nach der Wahl vorbereitet. 2020 scheiterten die Repu­blikaner mit mehr als sechzig Klagen in mehreren Bundesstaaten, um das Wahlergebnis anzufechten – ein Fehlschlag, den sie dieses Mal vermeiden wollen.

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US-Wahl 2024Harris oder Trump – wer führt in den Umfragen?

Es ist möglich, dass Trump wieder versucht, „alternative“ Wahlleute in meh­reren Bundesstaaten aufzustellen, die ihm dort entgegen dem eigentlichen Votum den Sieg sichern sollen – ein Plan, für den er in Georgia angeklagt wurde. Doch 2024 ist nicht 2020. Trumps Spielraum, das Wahlergebnis zu torpedieren, ist enger geworden und würde noch ra­dikalere Mittel erfordern. Biden, der als Präsident das Militär kontrolliert und die Aufsicht über das Justizministerium innehat, ist ein starker Gegenspieler. Zudem erschwert eine Gesetzesänderung von 2022 Kongressmitgliedern die Anfechtung der Wahlergebnisse. Um einen möglichen Sieg von Harris tatsächlich zu blockieren, brauchte Trump voraussichtlich eine Mehrheit in beiden Kammern und eine erhebliche Zahl republika­nischer Abgeordneter und Senatoren, die ihn unterstützen.

Es ist ebenso denkbar, dass Trump schnell und deutlich gewinnt

All das sind die Szenarien für den Fall, dass das Wahlergebnis lange unklar bleibt. Doch es ist ebenso denkbar, dass Trump am 5. November einfach gewinnt, vielleicht sogar schnell und deutlich. Sollte er am Wahlabend in Pennsylvania und Michigan klar vorn liegen, wäre die Wahl so gut wie entschieden. Von Harris sind keine Unterstellungen eines Wahlbetrugs zu erwarten. Auch Biden äußerte kürzlich, er zweifle nicht an einer fairen Wahl – nur ob sie auch friedlich verlaufen werde, da sei er sich nicht sicher.

Fest steht: Trump wäre dann Präsident eines tief gespaltenen Landes. Die Gräben in der amerikanischen Gesellschaft reichen längst weit über konkrete politische Fragen hinaus. Republikaner wie Demokraten sehen sich jeweils als Bollwerk gegen das vermeintliche Übel der anderen Seite. Trumps spalterische Rhetorik lässt nicht darauf hoffen, dass sich daran bald etwas ändert.

Um das Chaos seiner ersten Amtszeit zu vermeiden, haben konservative Denkfabriken im Rahmen des „Project 2025“ der Heritage Foundation eine Strategie für eine zweite Amtszeit entworfen. Ein zentrales Ziel ist der Kampf gegen den „Tiefen Staat“ in Washington: Die Bundesverwaltung soll ver­kleinert und mit Trump-Loyalisten besetzt werden. Zudem planen sie, die Unabhängigkeit des Justizministeriums und des FBI einzuschränken und das Bildungswesen so zu reformieren, dass sozialkonservative statt „woker“ Werte gefördert werden.

Trump hat eine Zusammenarbeit mit dem „Project 2025“ zwar entschieden zurückgewiesen, nachdem Harris es in ihrem Wahlkampf mit eindringlichen Warnungen in den Mittelpunkt gestellt hatte. Doch eine Verbindung ist nicht zu bestreiten. Mehr als die Hälfte der Autoren waren in seiner Regierung oder seinem Wahlkampfteam tätig. Die Heritage Foundation steht ihm ohnehin nahe.

Viele der Inhalte passen dazu, dass Trump den Amerikanern „Vergeltung“ versprochen hat, sollte er ein zweites Mal Präsident werden. Kritiker will er strafrechtlich verfolgen, unliebsamen Medien die Sendeerlaubnis entziehen. Gegen Mi­granten will er mit der „größten inländischen Abschiebeaktion der amerikanischen Geschichte“ vorgehen. Amerikas Verbündete müssten sich darauf einstellen, international wiederum ohne Washingtons Rückendeckung dazustehen. Das gilt vor allem für die Ukrainehilfen, die Trump mehrfach heftig kritisiert hat. Mit Blick auf die NATO wird in seinem Beraterkreis eine grundlegende Neuorientierung erwogen.

Möglich ist freilich auch, dass die Umfrageinstitute Harris unterschätzen und sie nicht nur die „blaue Wand“, die umkämpften Bundesstaaten im Rostgürtel, verteidigt, sondern auch in Georgia oder Arizona vorn liegt. Zwar ist es selbst in diesem Szenario unwahrscheinlich, dass Trump am 5. November seine Niederlage eingesteht, Harris anruft und ihr zum Wahlsieg gratuliert.

Doch wenn die Demokratin klar vorn liegt, dürfte einigen Republikanern nicht danach sein, den Aufruhr von vor vier Jahren zu wiederholen – zum Beispiel Lindsey Graham und Mike Johnson. Graham, der mit Trump befreundete Se­nator aus South Carolina, sagte sei­nerzeit, nachdem die Rebellion im Ka­pitol gescheitert war und der Kongress seine Sitzung zu später Stunde fortsetzte, bewusst doppeldeutig: Es sei für ihn eine irre Fahrt mit Trump gewesen. Er mache jetzt aber nicht mehr mit. Auch Johnson, der Sprecher des Repräsentantenhauses, hat sich bei aller Nähe zu Trump bisher im Zweifel stets staatstragend verhalten – sei es beim Bundeshaushalt oder bei der Ukrainehilfe.

Ein Zurück zur traditionellen „Grand Old Party“ wird es nicht geben

Eines wäre bei einer Niederlage Trumps klar: Es war sein letzter Versuch, wieder ins Weiße Haus zu gelangen. 2028 wäre er 82 Jahre alt – und er hat selbst ausgeschlossen, dann noch einmal anzutreten. Die Republikaner hätten nach Trumps Wahlsieg 2016 viermal unter dessen Ägide verloren: 2018, 2020, 2022 und 2024. Der Trumpismus wäre zwar nicht aus der Welt. Die Partei müsste sich aber einen neuen Anführer suchen. Ein Zurück zur traditionellen „Grand Old Party“, die sozialkonservativ, freihändlerisch und internationalistisch war, wird es gewiss nicht geben.

Ob ein Wahlverlierer namens J. D. Vance dann aber Trumps Bewegung er­ben und Frontmann eines intelligenteren und zivileren Trumpismus würde, muss ebenfalls bezweifelt werden. Wahrscheinlicher wären Diadochenkämpfe in der Partei. Trumps Söhne Don junior und Eric haben zuletzt eine größere Rolle im Wahlkampf des Vaters gespielt. Auch sie könnten Ansprüche anmelden. Dann sind da jene, die die Partei zumindest wieder ein Stück zurück in die Mitte rücken wollen. Keiner weiß, wie ein solcher Richtungskampf ausgehen würde.

In diesem – den Umfragen nach zuletzt weniger wahrscheinlichen – Szenario hätten die Vereinigten Staaten ihre erste Präsidentin. Sie dürfte in weiten Teilen auf Kontinuität setzen. Leicht würde es nicht für die Demokratin. Die innere Polarisierung wird nicht verschwinden, und die Weltlage bliebe so gefährlich wie zuvor. Trotzdem hätte die Demokratie in Amerika und mit ihr der liberale Westen ihre größte interne Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg überstanden.

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