Die besonders starke Intention von Frauen, an den US-Wahlen 2024 teilzunehmen, könnte für Kamala Harris entscheidend sein. Bild: Schlussstein
Am Wochenende erlebte der US-Wahlkampf eine kleine «November-Surprise»: Eine Umfrage sah in Iowa plötzlich Kamala Harris vorne. Iowa, ein Staat, der 2024 eigentlich gar nicht für die Demokraten infrage gekommen ist. Was das – möglicherweise – über den Wahlausgang aussagt.
05.11.2024, 12:0105.11.2024, 12:23
J. Ann Selzers Umfragen gelten als besonders gut, sie gehören zu den besten des Landes. Sie haben den Ruf, sehr genau zu sein, was insbesondere auf ihre Performance in den Jahren 2008 bis 2020 zurückgeht. So viel steht fest – auch wenn Donald Trump zuletzt anderes behauptete und die 68-Jährige frontal angriff.
Er tat dies natürlich, weil ihm Selzers neuste Umfrage überhaupt nicht gefiel. Deren Institut Selzer & Company veröffentlichte übers Wochenende die letzten Daten zur Wahlabsicht der Menschen in Iowa. Und sie vermochten zu überraschen: Kamala Harris führte auf einmal mit drei Prozentpunkten.
Iowa, ein «solid republikanischer» Staat im Mittleren Westen
Überraschend ist das deshalb, weil Iowa eigentlich kein Swing State ist. 2020 gewann hier Trump mit einem Vorsprung von acht Prozentpunkten, vier Jahre zuvor sogar mit neun. Iowa wird vom unabhängigen Cook Political Report als «solid republikanisch» eingestuft.
Nun muss eine einzelne Umfrage natürlich in ein Verhältnis mit ihresgleichen gesetzt werden. Jede Analyse, die eine einzelne Umfrage isoliert betrachtet, wird unvollständig und womöglich fehlerhaft sein. Denn Fakt ist eben auch, dass Selzers Daten die bisher einzigen sind, die Harris in Iowa vorne sehen. Bei jeder anderen Umfrage in diesem Jahr hatte Trump einen Vorsprung von mindestens vier Prozentpunkten. Sämtliche Umfrage-Durchschnitte sehen den Republikaner mit mehreren Prozentpunkten vorne – auch unter Einrechnung der neusten Daten. Zudem liegen die drei Prozentpunkte, mit denen Selzer Harris in Führung sieht, noch knapp innerhalb des statistischen Fehlerbereichs von 3,4 Punkten.
Warum also sollte man sich etwas aus Selzers Umfrage machen?
J. Ann Selzer, die Ausreisserkönigin
Nun, einerseits aufgrund des oben genannten Umstands, dass die Daten des 1996 von J. Ann Selzer gegründeten Instituts zu den genausten im ganzen Land gehören. Und andererseits, weil sich Selzer & Company nicht zum ersten Mal in dieser Situation wiederfindet, wie die «New York Times» heute aufzeigt.
«Ich war schon so oft die Ausreisserkönigin.»
J. Ann Selzer
In der letzten Woche vor der Wahl 2020 veröffentlichte das Institut eine Umfrage in Iowa, die zeigte, dass Trump in diesem Bundesstaat mit sieben Prozentpunkten Vorsprung führte. Das war ein Ausreisser: Andere Umfragen zeigten ein viel engeres Rennen, wobei Trump im Durchschnitt um etwas mehr als einen Punkt vorne lag. Selzers eigene Umfrage zwei Monate zuvor hatte ein Unentschieden zwischen Trump und Joe Biden ergeben.
Am Ende gewann Trump den Bundesstaaten mit sechs Wahlleutestimmen mit 53 Prozent zu 45 Prozent – also acht Prozentpunkten.
J. Ann Selzer gibt Anderson Cooper von CNN Auskunft über ihre überraschende Umfrage.Bild: Screenshot CNN
Sie sei schon so oft die Ausreisserkönigin gewesen, so J. Ann Selzer gegenüber der «New York Times». «Ich bin nicht sprunghaft.» Auch die Umfrage von 2016 unterstreicht das: Damals sah Selzer Trump mit sieben Punkten im Vorsprung, obwohl die Umfragen ihm insgesamt einen deutlich kleineren Drei-Punkte-Vorsprung attestierten. Er gewann den Staat in diesem Jahr mit neun Punkten.
Und die Geschichte geht sogar noch weiter zurück: 2008 veröffentlichte Selzer eine Umfrage, aus der hervorging, dass ein ziemlich unbekannter, Schwarzer Senator aus Illinois bei den Vorwahlen der Demokraten in Iowa 2008 in Führung lag – eine grosse Überraschung sogar für Expertinnen und Analysten. Der Senator war Barack Obama, der bekanntlich die Vorwahlen in Iowa und gesamthaft gewann und damit seinen Weg zur Präsidentschaftsnominierung und schliesslich ins Weisse Haus freimachte.
Wenn sogar die eigenen Ergebnisse hinterfragt werden
Doch obschon es sich J. Ann Selzer gewohnt ist, den Ausreisser unter den Umfragen zu produzieren, gibt sie an, dass auch sie zunächst leer schlucken musste.
«‹Überrascht› wird der Sache nicht ganz gerecht.»
J. Ann Selzer
Meinungsforschende in den USA würden gemäss NYT bisweilen einem Phänomen erliegen, das als «Herdentrieb» bekannt ist. Das kommt dann vor, wenn die Institute ihre Ergebnisse nur dann veröffentlichen, wenn sie mit dem übereinstimmen, was bereits in anderen oder früheren Umfragen ermittelt wurde. Doch J. Ann Selzers Bereitschaft, ihre Ergebnisse auch dann zu veröffentlichen, wenn sie eben Ausreisser sind, ist einer der Gründe, warum sie weithin als vertrauenswürdige Meinungsforscherin gilt.
Zwar habe sie nie und nimmer geglaubt, dass ihr Institut einen Vorsprung von Harris ausweisen würden. Nachdem sie die Daten aber doppelt geprüft, analysiert und besprochen hatte, sei man zum Schluss gekommen, dass keine offensichtlichen Fehler vorliegen würden.
Im Gegenteil, sie habe sogar einige zugrunde liegende Ergebnisse gefunden, die erklären könnten, was passiert sein mag.
Mehr Frauen wollen zur Urne
Bereits in einer vorherigen, von ihr durchgeführten Umfrage in Iowa habe sich nämlich ein möglicher Trend in Richtung Harris abgezeichnet. Diese sah zwar noch im September Trump mit vier Prozentpunkten in Führung. Das war allerdings bereits etwas weniger als noch im Juni. Doch es war vor allem ein anderer Trend, der sich abzeichnete.
In dieser und in der letzten Selzer-Umfrage war der Anteil der Befragten, die angaben, sie würden mit grosser Wahrscheinlichkeit wählen (oder hatten es in der letzten Umfrage bereits getan), klar höher als in der Juni-Umfrage.
Dabei waren es insbesondere mehr weibliche, jüngere und gebildete Wähler, die neu angaben, nun an die Urne gehen zu wollen.
Wird einen möglichen Sieg wohl den Frauen zu verdanken haben: Kamala Harris, hier bei einer Wahlkampfveranstaltung in Michigan. Bild: Schlussstein
In der jüngsten Umfrage sprach sich auch eine Mehrheit der Wählenden ab 65 Jahren für Harris aus. Das liegt vor allem an den Frauen: Frauen ab 65 gaben mit 63 Prozent (zu 28 Prozent) an, Harris wählen zu wollen – ein extrem grosser Vorsprung. Und auch die unabhängigen Wählenden, insbesondere die unabhängigen Frauen, tendierten in der neuen Umfrage zur Demokratin.
Selzer sagt dazu: «Es ist, als ob die Leute von der Bank aufgestanden sind und gesagt haben: ‹Okay, ich gehe wählen.› Und das waren Harris-Anhänger.»
Gut möglich, dass Selzers Umfrage ein Ausreisser ist, weil auch ihre Umfragen mal falsch liegen können. Gut möglich auch, dass Iowa zwar wirklich demokratisch wählt, aber damit zum landesweiten Ausreisser wird. Die NYT kommt trotzdem zum Fazit: «Selbst wenn Harris Iowa nicht gewinnen sollte, könnte die Vorstellung, dass sie in einem Staat des Mittleren Westens Gewinne erzielt, den Demokraten eine gewisse Hoffnung für ihre Chancen in umkämpften Staaten geben.»
Sie sei darauf vorbereitet, dass am Ende doch Trump in Iowa gewinnen werde, so Selzer, und mache sich keine Sorgen, dass ihre Umfrage dann falsch ausfallen könnte. Am Ende des Tages werde sie entweder «goldig sein» – oder dann halt das «Stinktier» unter den Meinungsforschenden. Wie würde sie darauf reagieren? «Ich werde es wie ein grosses Mädchen hinnehmen. Ich werde keine Tränen vergiessen.»
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