Autor:
Eine Analyse von Andrea Christen
05.11.2024, 04:28
Sollte Donald Trump sich heute durchsetzen, wäre ihm ein beispielloses politisches Comeback gelungen. Er hätte gewissermassen die politische Schwerkraft überwunden. Was die Karriere anderer Politiker zum Absturz bringen würde, hätte ihm nicht geschadet – eher im Gegenteil: die vier Strafanklagen, die Verurteilung in New York, die zwei Amtsenthebungsverfahren, sein Frontalangriff auf die US-Demokratie, der im Sturm aufs Kapitol gipfelte.
Wirtschaft könnte Trump in die Hände spielen
Das wahrscheinlich wichtigste Wahlkampfthema, die Wirtschaft, könnte ihm in die Hände spielen. Viele scheinen sich in die Wirtschaft der Trump-Jahre zurückzuwünschen, in der Alltägliches billiger war. Dreh- und Angelpunkt von Trumps Wahlkampf bleibt aber die illegale Einwanderung. Wenn er Massendeportationen verspricht, setzt er darauf, dass ihn diese Rhetorik erneut ins Weisse Haus bringt. Wer ihn heute wählt, weiss nun exakt, wofür Donald Trump steht. Seine Neigung zum Autoritarismus ist offensichtlich. Er spricht etwa davon, mit dem Militär gegen die «Feinde im Innern» vorzugehen. Trump, der sich selbst als Opfer einer juristischen Hexenjagd sieht, würde wohl die Justiz instrumentalisieren, um sich an politischen Gegnern zu rächen.
Was ihn in der ersten Amtszeit zurückhielt, dürfte fehlen: mässigende Figuren wie sein ehemaliger Stabschef John Kelly, der Trump nun einen Faschisten nennt. Sehr fraglich ist, ob der Oberste Gerichtshof Trump Paroli bieten würde. Die neun Richterinnen und Richter – drei von ihnen wurden von Trump eingesetzt – haben Präsidenten mit weitreichender Immunität ausgestattet. Auch der innerparteiliche Widerstand ist praktisch inexistent. Sollte die Republikanische Partei nach dieser Wahl beide Kongresskammern kontrollieren, würde Trump wohl auch kaum von der Legislative gezügelt.
Trumps Sieg hätte auch Folgen für Europa: Das Bekenntnis der USA zur NATO wäre infrage gestellt. Die Einfuhrzölle, die Trump verspricht, dürften auch für europäische Produkte gelten. Und falls er verliert, wäre ein erneuter Versuch, das Wahlresultat umzustossen, wahrscheinlich. Trump und seine Verbündeten haben den Boden dafür schon bereitet.
Anfängliche Harris-Euphorie trügerisch
Sollte Kamala Harris gewinnen, wäre ihr ein Husarenstück gelungen: die erstmalige Wahl einer Frau zur US-Präsidentin, nach einem Wahlkampf von nur etwas mehr als 100 Tagen. Und tatsächlich hat Harris einen disziplinierten Wahlkampf geführt. Doch dass sie Trump in den Umfragen nicht hinter sich zurückliess, zeigt, dass die anfängliche Harris-Euphorie womöglich trügerisch war. Lange war unklar, wofür Harris steht, und sie hatte wenig Zeit, das zu ändern. Die linken Positionen, die sie früher vertrat, machten sie angreifbar. Harris musste sich auch keiner innerparteilichen Vorwahl stellen, die die Gelegenheit geboten hätte, sich zu profilieren.
Man darf bezweifeln, ob sie heute die Kandidatin wäre, wenn sie gegen andere Parteigrössen hätte antreten müssen. Harris hat zwar konkrete Wahlkampfversprechen gemacht, speziell, wenn es um die wirtschaftliche Unterstützung für den Mittelstand geht. Aber ihr Versuch, sich als Kandidatin des Wandels zu präsentieren, ist nicht ganz glaubwürdig, zumal sie als Vizepräsidentin der jetzigen Regierung von Joe Biden angehört. Auch fusst der Wahlkampf von Kamala Harris auf der Annahme, im Jahr 2024 sei es für eine Frau mit afrikanischen und asiatischen Wurzeln möglich, im US-Wahlsystem zu reüssieren. Heute wird diese Annahme auf die Probe gestellt.