Als die Altkanzlerin regierte, konnte sie meistens auf einen Konsens in Politik und Bevölkerung bauen. Mittlerweile polarisieren ihre Entscheidungen zunehmend – aber Merkel sieht bei sich selbst kaum Fehler.
Nach ihrer vierten und letzten Amtszeit war es still geworden um die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel. Zuletzt war die christlichdemokratische Politikerin sogar aus der parteinahen Konrad-Adenauer-Stiftung ausgetreten. Es hiess, sie wolle ihr neues Leben frei gestalten, ganz ohne politische Zwänge.
Doch nun tritt sie erneut als Politikerin in Erscheinung. Mit ihrer politischen Biografie «Freiheit», am Dienstag im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen, will sie die Deutungshoheit über ihre lange Zeit im Kanzleramt zurückgewinnen.
Dabei geht es auch um solch schwerwiegende Entscheide wie die nicht erfolgte Grenzschliessung während der Asylkrise im Jahr 2015. Die politische Kontroverse rund um diese Zeit will Merkel bis heute nicht verstehen. An einem Beispiel lässt sich das besonders anschaulich zeigen: daran, wie sie auf ihr Diktum «Wir schaffen das» zurückblickt.
«Wir schaffen das»: Merkel versteht die Kritik nicht
Der Satz fiel im August 2015, als in der Öffentlichkeit erste Zweifel lautwurden, ob Deutschland tatsächlich über eine Million Asylmigranten – vorwiegend Syrer – aufnehmen kann. Dazu schreibt Merkel: «Hätte mir damals jemand gesagt, dass ‹Wir schaffen das›, diese drei banalen Worte, mir später wochenlang, monatelang, jahrelang, von einigen bis heute vorgehalten würden, hätte ich ungläubig geguckt und gefragt: Wie bitte?»
Ähnlich kommentiert sie ein Foto, das sie damals mit einem Flüchtling aufgenommen hatte. Sie habe «nicht die geringste Vorstellung» davon gehabt, «welche Wellen dieses Bild und weitere Selfies schlagen würden», schreibt sie. Der Grundton des Buches: Sie, die Altkanzlerin, habe immer sachlich im Sinne Deutschlands und Europas gehandelt. Die politische Polarisierung hätten andere zu verantworten.
Merkels Wahlkampfstrategie wurde seinerzeit als «asymmetrische Demobilisierung» beschrieben. Hinter dem sperrigen Begriff steht ein einfaches Konzept: Wer diese Strategie befolgt, vermeidet kontroverse Stellungnahmen. Soweit möglich, integriert er sogar die Konzepte des Gegners in die eigene Programmatik.
Die Parteien der politischen Mitte glichen sich dadurch einander immer stärker an. So blieben einige potenzielle Wähler von SPD und Grünen am Wahltag zu Hause – oder sie wählten gleich Merkel.
Merkels «Alternativlosigkeit» lieh der AfD den Namen
Von einem «Anschlag auf die Demokratie», dessen sich Merkels Partei schuldig gemacht habe, sprach daher Martin Schulz, der glücklose sozialdemokratische Kanzlerkandidat bei der Parlamentswahl 2017. Tatsächlich hat Merkels Demobilisierungstaktik nicht nur die Sozialdemokraten geschwächt, sondern auch die AfD gestärkt.
Die Alternative für Deutschland wurde 2013 gegründet, als Antwort auf Merkels Dogma, die Rettung des Euro im Zuge der Finanzkrise sei «alternativlos». «Die Parteigründer lehnten die Politik meiner Regierung zur Stabilisierung des Euro ab», schreibt Merkel. «Ich dagegen war stolz darauf, dass es gelungen war, den Euro zu retten.» Mit ihrer Wiederwahl habe sie sich in ihrem Kurs bestätigt gesehen, lässt sie den Leser wissen. Der Protest der AfD, zu deren Gründern mehrere wirtschaftsliberale Ex-CDU-Politiker gehörten, störte sie offenbar wenig.
Spricht man heute mit prominenten Politikern aus CDU und CSU, möchte kaum einer mit Aussagen über das politische Erbe der Altkanzlerin zitiert werden. Zwar ist die CDU unter dem neuen Vorsitzenden Friedrich Merz inzwischen von Merkels Mitte-links-Ausrichtung abgerückt, hat ihren Kurs etwa in der Asyl- und Energiepolitik wieder in die Mitte justiert. Aber die Merkel-Jahre lasten schwer auf der Union aus CDU und CSU. Viele Wähler nehmen ihr den gegenwärtigen Kurswechsel nicht ab.
Ex-Kanzlerin will Reform der Schuldenbremse
Jetzt rät Merkel den Parteien der Mitte, nicht «unentwegt» über die Themen der AfD zu sprechen, vor allem in der Migrationspolitik, in der die Rechtspartei einen Aufnahmestopp für Asylbewerber und Zurückweisungen an der Grenze fordert. Man könne die AfD nicht kleinhalten, indem man sie «auch noch rhetorisch» übertrumpfe – «ohne tatsächliche Lösungen für bestehende Probleme anzubieten».
Zumindest für ein Problem der Gegenwart schlägt Merkel eine Lösung vor: Sie fordert die Reform der Schuldenbremse, die dem deutschen Staat nur eine geringe Neuverschuldung gestattet. Aus Sicht der Kritiker hindert sie den Staat daran, Kredite etwa für die Erneuerung der maroden öffentlichen Infrastruktur aufzunehmen. So sieht es heute auch Merkel, die hinzufügt, es gehe ausserdem darum, «Verteilungskämpfe in der Gesellschaft zu vermeiden».
Dabei ist die Schuldenbremse ein Erbe von Merkels Regierungszeit: 2009, als die Schuldenbremse Eingang in die Verfassung fand, regierte die Union gemeinsam mit der SPD. Damals argumentierte die Regierung, mit dem neuen Verfassungsinstrument sichere sie die finanzielle Zukunft kommender Generationen.
Sie hält Nord Stream 2 nach wie vor für richtig
Und es gibt offenbar ein Thema, bei dem Merkel geradezu gereizt ist. Seit dem russischen Grossangriff auf die Ukraine im Februar 2022 werde ihr «stärker denn je» vorgeworfen, sie habe «Deutschland in eine unverantwortliche Abhängigkeit von russischem Gas geführt», schreibt sie.
Ihr Amtsvorgänger Gerhard Schröder hatte 2005 den Vertrag zur Errichtung der Nord-Stream-Pipeline unterzeichnet, die sechs Jahre später eröffnet wurde. Dann setzte sich Merkel für den Bau einer zweiten Leitung ein – Nord Stream 2.
Nord Stream 1 transportierte russisches Gas durch die Ostsee nach Deutschland, unter Umgehung der Ukraine und weiterer osteuropäischer Transitländer. Im August 2022 legte Russland die aktive Leitung vollständig still. Schliesslich zerstörte eine Explosion die beiden Stränge von Nord Stream 1 und einen Strang von Nord Stream 2.
Der Atomausstieg war vor allem politisch motiviert
Warum Merkel die Leitung bauen liess? Deutschland habe das russische Gas wegen des Ausstiegs aus der Kernenergie «als fossile Brückentechnologie» gebraucht, schreibt sie. Und zwar, «bis die erneuerbaren Energien die Energieversorgung vollständig übernehmen konnten».
Denn 2011 wurde nicht nur Nord Stream eröffnet. Merkel bestätigte auch den Entscheid zum Atomausstieg, den die Vorgängerregierung unter Schröder getroffen hatte. Das rechtfertigte sie seinerzeit mit dem Atomunglück im japanischen Fukushima.
Doch in ihren Memoiren klingt die damalige Lage anders. Sie habe nach dem Unglück in Japan vor allem die «Auseinandersetzungen mit den Kernkraftgegnern» gefürchtet, schreibt sie. Es waren also weniger sachliche als politische Gründe, die sie zum Atomausstieg bewogen hatten.
Merkel sieht keine Mitverantwortung für den Ukraine-Krieg
Besonders ausführlich geht Merkel auf das Minsk-Abkommen von 2015 ein, das sie mit ausgehandelt hatte. Es sollte den Waffenstillstand in der Ostukraine sichern, nachdem dort von Russland unterstützte Separatisten zwei «Volksrepubliken» ausgerufen hatten. Doch diese hielten sich nicht an die Bestimmungen. Stattdessen griffen sie immer wieder ukrainische Ortschaften an.
Kritiker werfen Merkel vor, mit dem schwachen Abkommen sei Russland nicht genügend abgeschreckt worden. Zudem habe sich Deutschland mit dem Bau der Nord-Stream-Leitungen noch zusätzlich von Russland abhängig gemacht. Das habe den Kreml zum Grossangriff auf die Ukraine ermutigt.
Doch Merkel sieht die Verantwortung für den Kriegsausbruch ausschliesslich bei Putin. Er habe sich im Zuge der Pandemie immer stärker abgeschottet, sei für Treffen nicht mehr erreichbar gewesen.
Die Frage, ob ihre Energie- und Aussenpolitik einen Beitrag zum Ausbruch des Krieges geleistet haben könnte, beantwortet Merkel nicht. Sie stellt sie sich nicht einmal.
Die Pandemie brachte sie in Rage
Im Kapitel zur Covid-Pandemie wird Merkel emotional. Dort finden sich Sätze, die für die Ex-Kanzlerin ungewöhnlich sind: «Innerlich war ich verzweifelt», «Innerlich kochte ich».
Merkels Narrativ: Sie selbst nahm die Warnungen von Virologen ernst und handelte verantwortungsvoll, während manche Ministerpräsidenten der deutschen Bundesländer stets das Haar in der Suppe suchten und darauf aus waren, harte Lockdown-Massnahmen aufzuweichen. Die Lösung aus Merkels Sicht: die sogenannte Bundesnotbremse, um die Massnahmen in Deutschland zu vereinheitlichen.
Dass Merkel für seuchenpolitische Härte plädiert, überrascht wenig. Ihre warmen Worte über die deutsche Corona-App erstaunen aber. Vor allem wegen der grossen Datenschutzbedenken bei der Kontaktverfolgung war diese App in der Praxis nahezu nutzlos, sie hatte den Staat aber mehr als 200 Millionen Euro gekostet.
Düstere Worte über Donald Trump
Fehler räumt Merkel in ihrem Buch kaum ein. Eine der wenigen Ausnahmen ist eine Stelle, in der sie auf ihren Gastbeitrag in der «Washington Post» Bezug nimmt. Darin hatte sie im Jahr 2003 als Chefin der Christlichdemokraten den damaligen Kanzler Schröder für seine skeptische Haltung zum zweiten Irakkrieg kritisiert. Sie schreibt dazu, es sei nicht richtig gewesen, «als deutsche Politikerin (. . .) den eigenen Regierungschef im Ausland frontal anzugreifen».
Gute Beziehungen zu den USA, aber vor allem auch zu China waren Merkel aus wirtschaftlichen Gründen sehr wichtig. Über ihr Verhältnis zu Chinas Regierungschef Xi Jinping schreibt sie, ihre «marxistisch-leninistischen Kenntnisse» hätten es ihr ermöglicht, ihm präzise Fragen zur Kommunistischen Partei Chinas zu stellen. Beim Thema Menschenrechte sei man weit auseinandergelegen – ihren dennoch chinafreundlichen Kurs erklärt Merkel als «Beispiel für Realpolitik».
Härter fällt Merkels Urteil über den ehemaligen und künftigen US-Präsidenten Donald Trump aus. Sie beschreibt ihn als egoistischen Nutzenmaximierer. Diese Mentalität stamme aus seiner Zeit als Immobilienunternehmer. Ihr Fazit: «Eine gemeinsame Arbeit für eine vernetzte Welt» sei mit Trump eigentlich unmöglich.
Zum glücklosen Afghanistan-Einsatz der Nato mit deutscher Beteiligung schreibt Merkel in maximaler Nüchternheit, dass die Ziele dafür zu hoch gesteckt gewesen seien. Auch an einer anderen Stelle ihrer aussenpolitischen Bilanz bleibt Merkel vage. Im Jahr 2008 hatte sie im israelischen Parlament gesagt, Israels Sicherheit sei Teil der deutschen Staatsräson. Was damit konkret gemeint ist, vermag bis heute niemand zu sagen. Merkel geht auf die «Staatsräson» gut fünf Seiten lang ein, bringt aber kaum Licht ins Dunkle.
Migration: der Sonderweg als Optimum?
Wenn es um ihre Asylpolitik geht, kommt Merkel immer wieder auf die Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 zu sprechen, als sie entschied, in Ungarn ausharrende Asylmigranten aus dem arabischen Raum nach Deutschland einreisen zu lassen. «Aus heutiger Sicht ist nur noch schwer nachvollziehbar, dass die Entscheidung damals so umstritten war», schreibt sie. Die Ex-Kanzlerin verkennt, dass diese Entscheidung einen Dominoeffekt auslöste, da in den folgenden Monaten und Jahren rund 2,5 Millionen Asylsuchende nach Deutschland kamen.
Wenige Monate nach Merkels Entscheidung belästigten in der Silvesternacht 2015 in Köln zahlreiche Nordafrikaner und Araber Hunderte junge Frauen. Mehr als 500 Sexualdelikte wurden zur Anzeige gebracht. Danach begann sich die Stimmung in der deutschen Bevölkerung schleichend zu drehen. Die sogenannte Willkommenskultur wich der Skepsis. Merkel handelt die Silvesternacht in einem knappen Absatz ab. Die erste Frau im Kanzleramt findet darin keine Worte der Empathie für die vielen jungen Frauen, die in dieser Nacht belästigt, missbraucht und teilweise auch traumatisiert wurden.
In ihrem Buch schildert Merkel ausserdem präzise mehrere islamistische Terroranschläge, die sich in Deutschland im Jahr 2016 ereignet hatten und offensichtlich mit der Politik der offenen Grenzen in Verbindung standen. Warum sie ihre Migrationspolitik dennoch bis heute für richtig hält, bleibt weitgehend unklar. Im Buch heisst es dazu lapidar, dass die Werte der Demokratie stärker seien als der Terrorismus. Für eine Politikerin, die in einer bürgerlichen Partei Karriere gemacht hat, ist die Haltung zum Thema Migration ungewöhnlich.
Dazu passt ein Interview mit dem Magazin «Der Spiegel», in dem Merkel kürzlich die Frage gestellt wurde, ob Integration ihrer Ansicht nach nicht zuletzt eine Bringschuld des Aufnahmelands sei. Merkel bejahte dies und mahnte eine «Veränderungsbereitschaft» an, die für Integration massgeblich sei.