Wir riskieren, erneut über die Atomkraft in der Schweiz abzustimmen. Keystone / Montage Watson
Können in der Schweiz bald neue Atomkraftwerke gebaut werden? Der Bundesrat wünscht dies und schickt sein Projekt nun in die Vernehmlassung. Doch die ersten Reaktionen sind hart.
Michael Graber, Samuel Thomi / ch Medien
Wenn wir die Debatte über ein kontroverses Thema minimieren wollen, empfiehlt es sich, darüber gleichzeitig mit einem anderen – noch größeren – kontroversen Thema zu sprechen. Beim Gegenprojekt zur Initiative „Stoppt den Blackout“ gibt es sogar zwei weitere Themen, die von der Rückkehr der Atomkraft abgelenkt haben.
Im Schatten des CEP-Berichts zur Credit Suisse und der Einigung mit der EU hat der Bundesrat an seiner Sitzung am Freitag das indirekte Gegenprojekt zum Atomausstieg zur Vernehmlassung gestellt. Zentrales Element dieses Vorschlags ist eine Anpassung des Kernenergiegesetzes, „damit in der Schweiz wieder neue Kernkraftwerke bewilligt werden können“, wie es in der Medienmitteilung heißt. Bundesrat Albert Rösti hatte bereits im August die generelle Ausrichtung des Projekts bekannt gegeben.
Der Entscheid ist brisant, denn der Bundesrat geht weitgehend in die Richtung der Initiatoren und will eigentlich eine kürzliche Volksentscheidung aufheben. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 beschloss die nationale Regierung innerhalb von zehn Wochen, aus der Kernenergie auszusteigen. Das Volk bestätigte diese Entscheidung an der Wahlurne im Jahr 2017.
Theoretisch wäre es sogar möglich, dass dieser Änderung ohne Wahlurne zugestimmt wird, wenn der aktuelle Gegenvorschlag vom Parlament angenommen würde und die Initiatoren ihren Vorschlag zurückziehen würden. Die Durchführung eines Referendums zu diesem Thema scheint jedoch gesichert, wie die ersten politischen Reaktionen zeigen.
«Sabotageplan»
Der Bundesrat begründet seine Meinungspirale mit „erheblichen Unsicherheiten“ hinsichtlich der Möglichkeit, den wachsenden Strombedarf ausschließlich mit erneuerbaren Energien zu decken. Durch die „Integration der Kernenergie“ wolle man „Sicherheit in der Stromversorgung“ schaffen, „für den Fall, dass erneuerbare Energien nicht im gewünschten Umfang ausgebaut werden können“. Die mit dem Krieg in der Ukraine verbundenen Versorgungsunsicherheiten sind daher aus der Argumentation verschwunden.
Genug, um heftige Reaktionen auszulösen. Die PS spricht von „einer gefährlichen Energiepolitik aus alten Zeiten“. Die Grünen von einem „Sabotageplan für die Energiewende“. Das Bündnis für den Atomausstieg spricht von „sehr hohen Risiken“. Alle Kritiker weisen darauf hin Der Bau eines Atomkraftwerks wäre sehr teuer und würden so lange halten, dass sie in den nächsten zwei Jahrzehnten nichts zur Sicherheit der Stromversorgung beitragen würden.
Darüber hinaus ist unklar, wer ein neues Atomkraftwerk bauen könnte. Die großen Stromkonzerne haben alle betont, dass sie derzeit keine Pläne für ein neues Atomkraftwerk haben. Und dies insbesondere aus Kostengründen. Allerdings begrüßen viele Energiekonzerne die Tatsache, dass der Bau neuer Kernkraftwerke wieder möglich ist.
Eine mögliche finanzielle Beteiligung des Bundes an einem neuen Kernkraftwerk erwähnt der Bericht nicht. Die Finanzierung steht ohnehin nicht im Mittelpunkt der aktuellen Debatte.
Vorrang für erneuerbare Energien
Befürworter der Atomkraft wiederum sprechen von einem „positiven Signal für Technologieoffenheit“. Auch der Vorschlag des Bundesrates ist kein Entscheid für ein neues Atomkraftwerk, sondern lässt der Schweiz alle Möglichkeiten, mögliche Energieengpässe zu beheben. Der Bundesrat betont in seiner Medienmitteilung zudem, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien „absolute Priorität behält“.
Er betont zwar, dass Kernenergie auch CO2-neutral sei, ein mögliches neues Atomkraftwerk werde jedoch kaum einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele leisten können, die sich die Schweiz gesetzt hat. Tatsächlich scheint der Bau eines neuen Kernkraftwerks bis 2050 selbst bei den ehrgeizigsten Zeitplänen unrealistisch.
Die Beratungen zur Aufhebung des Verbots für den Bau neuer Atomkraftwerke werden bis April dauern. Der Bundesrat entscheidet dann endgültig über das weitere Vorgehen.
Übersetzt und angepasst von Chiara Lecca