Johanna Neumann war acht Jahre alt, als sie Zeugin wurde, wie ein Mob aus Bürgern und Nazis die Bornplatz-Synagoge in Hamburg zerstörte. Sie „schrien und warfen Steine gegen die wunderbaren Glasfenster“, wie sie später in einem mündlichen Geschichtsinterview sagte. Andere Schüler der nahegelegenen jüdischen Schule beschrieben einen Berg von Gebetbüchern und Thorarollen, die im Dreck auf der Straße lagen, geschändet und in Brand gesteckt wurden.
Es war 1938, fünf Jahre nach Beginn der Herrschaft Adolf Hitlers. Die Bornplatz-Synagoge, ein prächtiger neoromanischer Bau, war einer der größten des Landes. Jetzt stand es geschändet da, eine von Hunderten jüdischen Einrichtungen, die bei dem staatlich geförderten Pogrom am 9. und 10. November beschädigt oder zerstört wurden. Dieser Tag wurde als Kristallnacht oder „Nacht des zerbrochenen Glases“ bekannt, ein Euphemismus, der sich auf die vielen zerbrochenen Fenster bezieht.
Hunderte Juden kamen durch die Angriffe ums Leben, bis zu 30.000 jüdische Männer wurden in Konzentrationslager deportiert. Die NS-Regierung machte Juden für die Gewalt verantwortlich und verhängte gegen die Gemeinde eine Geldstrafe von einer Milliarde Reichsmark, die nicht bezahlbar war. In Hamburg musste die jüdische Gemeinde die beschädigte Synagoge verkaufen, die bald darauf abgerissen wurde.
In den letzten Jahren wurde der Standort dieses ehemaligen Wahrzeichens zum Schauplatz von Kontroversen, da die Bewohner darüber debattierten, ob und wie die alte Synagoge wieder aufgebaut werden sollte, wodurch das heute dort stehende Denkmal zerstört würde.
Als Kenner der deutsch-jüdischen Geschichte und der Art und Weise, wie daran erinnert wird, glaube ich, dass der Plan einen offenen Nerv berührt: wie Deutschland mit der Notwendigkeit umgeht, an die Vergangenheit zu erinnern und gleichzeitig eine wiederbelebte jüdische Gemeinschaft heute zu unterstützen. Für einige ist der Wiederaufbau der alten Synagoge ein Zeichen dafür, dass das jüdische Leben in der Stadt wieder aufblüht; Für andere ist der Wiederaufbau der Stätte eine Auslöschung vergangener Traumata.
Weg zur Erinnerung
Die Aufarbeitung des Holocaust in Deutschland und die Verantwortung, an die Opfer zu erinnern, ist ein langer und langwieriger Prozess. Unmittelbar nach dem Holocaust wandten sich die meisten Deutschen nach innen, konzentrierten sich hauptsächlich auf ihre eigenen Nöte und beschäftigten sich nicht mit dem Leid der jüdischen Opfer.
Zu den Auslösern des Wandels gehörten der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem im Jahr 1961 und die Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den Jahren 1963–1965, bei denen 22 Lagermitarbeiter vor Gericht gestellt wurden. Zeugenaussagen und eine umfassende Berichterstattung in den Medien erhöhten das Bewusstsein für die Gräueltaten in den Konzentrations- und Vernichtungslagern. Die Ausstrahlung der amerikanischen Miniserie „Holocaust“ im Jahr 1979 machte die Vergangenheit in jedem westdeutschen Wohnzimmer präsent. Lokale Aktivisten begannen auch, jüdische Geschichten in deutschen Kleinstädten aufzudecken.
Ein symbolischer Moment in der deutschen Abrechnung war der 50. Jahrestag des Novemberpogroms. Die Gedenkfeierlichkeiten 1988 waren von einer Reihe von Veranstaltungen in West- und Ostdeutschland geprägt, darunter einer Eröffnungsfeier für ein Jüdisches Museum in Frankfurt. Der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Helmut Kohl, war anwesend – ein Zeichen dafür, dass die Aufmerksamkeit für jüdisches Leben und jüdische Geschichte Teil einer bewussten Politik wurde.
Bis 1988 war die Bornplatz-Synagoge größtenteils in einen Parkplatz umgewandelt worden. Man könnte leicht vergessen, dass sich dort einst ein Zentrum jüdischen Lebens befand. Doch die Stadt Hamburg feierte das 50-jährige Jubiläum mit der Einweihung eines neuen Denkmals auf dem Gelände. Ein von der lokalen Künstlerin Margrit Kahl entworfener Mosaikboden zeigt die Umrisse der zerstörten Synagoge und ihrer Kuppel.
Laut der Architekturhistorikerin Alexandra Klei war Kahls Denkmal „eines der ersten“ seiner Art, das einen „leeren Raum in der Stadt zum Objekt der Erinnerung“ markierte. Es dient nun als bewusst offene Lücke in einem ansonsten geschäftigen Universitätsviertel.
Bald darauf wurde der Platz zu Ehren von Joseph Carlebach, dem letzten Rabbiner der Synagoge, umbenannt, der in das Konzentrationslager Jungfernhof bei Riga deportiert wurde. Er wurde im März 1942 bei einer Massenexekution in einem nahegelegenen Wald ermordet.
Ein Alt-Neubau
In Hamburg planen Mitglieder der jüdischen Organisation, die als offizieller Vertreter städtischer und staatlicher Institutionen fungiert, den Wiederaufbau der alten Synagoge – eine Möglichkeit, jüdisches Leben an demselben Ort wiederzubeleben, an dem es einst blühte.
Die Idee erlangte 2019 nach einem antisemitischen Angriff in einer Synagoge in Halle, einer Stadt in Mitteldeutschland, am Jom Kippur Anklang. Eine Online-Petition zur Unterstützung des Wiederaufbaus erhielt mehr als 107.000 Unterschriften sowie die Unterstützung christlicher Führer und lokaler Politiker.
Weitere Synagogen wurden an den Standorten zerstörter Synagogen in anderen deutschen Städten wie Dresden und Mainz errichtet. Diese Gebäude wurden bewusst so gestaltet, dass sie modern aussehen und nicht mit den im Holocaust zerstörten Originalen verwechselt werden dürfen. Sie verdrängten auch kein bedeutendes Denkmal.
Am Bornplatz hingegen stellte sich die Gemeinde vor, eine Nachbildung des Originals zu bauen, auch auf Kosten von Kahls Werk.
Mehrere Dutzend Intellektuelle, sowohl jüdische als auch nichtjüdische, lehnten diese Idee entschieden ab und argumentierten für die Macht des leeren Raums, eine Botschaft zu senden. Sie behaupteten, der Wiederaufbau einer Nachbildung einer Synagoge auf dem Denkmal würde die Erinnerung an die Zerstörung auslöschen, als ob der Novemberpogrom nie stattgefunden hätte.
Wessen Judentum?
Ob die Fläche mit einem Alt-Neubau gefüllt werden soll, steht nicht zur Debatte. In der Synagogen-Kontroverse gehe es um das jüdische Leben in Deutschland heute, argumentiert die Hamburger Soziologin Suanne Krasmann, und um die Art des Judentums, das in Erinnerung bleiben sollte.
Nach dem Holocaust, dem Fall der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands veränderte sich die Demografie der jüdischen Gemeinde in Deutschland radikal. Heute sind die überwiegende Mehrheit der rund 100.000 Mitglieder des Zentralrats der Juden in Deutschland Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion oder deren Nachkommen.
In Hamburg wird die wichtigste jüdische Gemeinde von Rabbi Shlomo Bistritzky aus Chabad geleitet, einer orthodoxen Konfession ohne historische Wurzeln im Vorkriegsdeutschland. Kritiker des Wiederaufbaus der Bornplatzsynagoge weisen hingegen darauf hin, dass die Stadt einen wichtigen Platz in der Geschichte des liberalen Judentums und der Reformbewegung einnimmt. Die Historikerin Miriam Rurüp machte beispielsweise auf den traurigen Zustand des ehemaligen Poolstraßentempels aufmerksam, der ersten gezielt errichteten Synagoge dieser Bewegung.
Vergangenheit ist Gegenwart
Trotz der Einwände stimmte die Hamburger Bürgerversammlung 2020 einstimmig für den Wiederaufbau. Im folgenden Jahr kam eine Machbarkeitsstudie zu dem Schluss, dass das Projekt tatsächlich eine Verlegung des Kahl-Denkmals oder eine vollständige Überbauung erfordern würde.
Gleichzeitig heißt es in dem Bericht: „Wir können die historische Bornplatz-Synagoge nicht restaurieren. Die Bornplatz-Synagoge wurde von den Nazis vernichtet.“ Die neue Synagoge wird nicht mit dem Gebäude von 1906 identisch sein; Die Vergangenheit kann nicht wiederhergestellt werden, als ob nichts geschehen wäre.
Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, ebenso wie ein potenzielles jüdisches Museum. Es ist unklar, welche Form sie annehmen werden. 86 Jahre nach dem Novemberpogrom arbeitet Deutschland noch immer an seiner Vergangenheit; Die psychologische Landschaft Hamburgs ist nach wie vor von einem unsichtbaren „im Bau“-Schild geprägt.