Torwart erzählt Englands Drama: Das große Leiden des irren Jordan Pickford

Torwart erzählt Englands Drama: Das große Leiden des irren Jordan Pickford
Torwart erzählt Englands Drama: Das große Leiden des irren Jordan Pickford
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Ein langer Rückstand, viel Bangen und eine schlechte Leistung: Irgendwie erreicht England doch das Viertelfinale der Fußball-Europameisterschaft. Besonders einer leidet spektakulär: Torwart Jordan Pickford.

Jordan Pickford hat ein mächtiges Problem. Er ist Torwart der englischen Fußball-Nationalmannschaft. Die Sache ist nicht, dass er im EM-Achtelfinale viel zu viel zu tun bekommen hätte, sondern eher, dass er selbst nichts tun kann. Denn als Torwart steht er in seinem knallgrünen Trikot mit 40 Metern Sicherheitsabstand zu dem, was seine Vorderleute machen. Oder besser: eher nicht machen.

Er fieberte mit: Jordan Pickford.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Three Lions, die stolze Fußballnation, die seit 1966 vom nächsten großen Titel träumt, mühte sich gegen die Slowakei – und rettet sich mit einem 2:1-Sieg in der Verlängerung. Wobei das Wort “mühen” nicht ausreicht, um zu beschreiben, was die englischen Fans durchmachen mussten. Die Elf von Trainer Gareth Southgate verweigert sich wie schon in der Gruppenphase knallhart jeden spannenden, schnellen oder irgendwie interessanten Fußball.

Es ist, als hätten die Engländer ein eingebautes Tempolimit, das die Stars um Harry Kane, Jude Bellingham, Kyle Walker und Co. daran hindert, ihr großes Potenzial aus dem Klubfußball auszuschöpfen. Wie ein sündhaft teurer Sportwagen, der aber mit maximal 80 Kilometern pro Stunde auf der Autobahn fährt. In der Vorrunde waren schon die Spiele gegen Serbien (1:0), Dänemark (1:1) und Slowenien (0:0) nur schwer zu ertragen.

Wie ein Manuel Riemann

Für die englischen Fans waren die drei Partien ohnehin schwerste Kost, für einen aber besonders: Jordan Pickford. Der 30-Jährige ist einer der wenigen im englischen Luxus-Kader, der nicht bei einem Topklub spielt, sondern beim FC Everton. Und er kann nur bedingt Einfluss auf das Spiel nehmen, schließlich ist er an seinen Strafraum gefesselt. Mit 1,85 Metern ist er für einen Torwart nicht sonderlich groß, einen Arm hat er volltätowiert, die Haare stets nach hinten gegelt. Einer, den man sich auch gut im Kneipenviertel von Brighton vorstellen.

Doch Pickford ist auch an sich ein bemerkenswerter Typ, das sind Torhüter meistens sowieso. Allein die deutschen Exemplare: Oliver Kahn, Jens Lehmann oder Manuel Riemann. Das sind Typen, die schnell in die Luft gehen und sich manchmal nicht mehr unter Kontrolle haben. Pickford passt auch irgendwie in diese Reihe. Aber er ist eher ein Schauspieler, jemand, der jede Sekunde des Spiels mitfiebert. Seine Regungen während eines Englandspiels sind unterhaltsam wie verzweifelt.

Wenn der Auftritt Pickfords das Unterhaltsamste am englischen Teams ist, sagt das einiges über die Leistung der Three Lions aus. Vor ihm schieben seine Kollegen den Ball uninspiriert vor dem slowakischen Sechzehner hin und her. Pickford steht 40 Meter weiter hinten und sucht verzweifelt Augenkontakt mit der Bank. Es ist, als würde er sagen: Das kann doch nicht deren Ernst sein. Er spricht immer wieder mit sich selbst, trommelt sich auf die Brust, reckt manchmal eine Faust in die Luft. Manchmal lässt er sich dabei ertappen, wie er das ohnehin schon stimmungsvolle Publikum anfeuert. Unter englischen Journalisten erzählt man sich, dass einige Innenverteidiger überrascht gewesen seien, dass da plötzlich ein Torwart ist, der sie so laut anschreit.

Die Engländer spielen nicht nur furchtbar, sie liegen gegen die Slowakei auch lange hinten. In der 25. Minute schockt Ivan Schranz den EM-Finalisten von 2021. Die Abwehr ist schlecht sortiert, Pickford trifft keine Schuld. Doch den Torwart verändert der Gegentreffer. Die sowieso schon auffälligen Gesten werden mit dem weiteren Spielverlauf immer ausladender, immer größer. Er schimpft mit Innenverteidiger John Stones, der bekommt das gar nicht mit. Als ein Kane-Kopfball das slowakische Tor verpasst, geht der Blick schnell auf die andere Seite: Pickford hat die Chance natürlich gesehen, er liegt in einer Sonnenanbeter-Pose auf dem Rasen. In der 81. Minute trifft Declan Rices Fernschuss den Pfosten, Kane jagt den Abpraller über das Tor. Kurz mal nachgeschaut: Pickford kniet verzweifelt vor dem englischen Strafraum.

Erst Doppel-Bizeps, dann die Säge

Die Zeit läuft ab. Das Schiedsrichtergespann gibt den Engländern noch einmal sechs Minuten Nachspielzeit, um nicht schon im Achtelfinale gegen die Slowakei mit 0:1 auszuscheiden. Und das ausgerechnet in “Gelsenkörken”, der Stadt, mit der sich die Engländer mittlerweile irgendwie wieder versöhnt zu haben scheinen. Als der vierte Offizielle die Tafel mit der Nachspielzeit in die Luft reckt, stützt Pickford seine Hände auf die Knie und schnauft noch einmal durch.

Die Engländer, nach der Halbzeit deutlich verbessert, drücken weiter auf das slowakische Tor. Bei jeder Aktion, die auch nur annähernd eine Chance ergeben könnte, steht 60 Meter weiter auf der anderen Seite des Feldes ein Mann in einem knallgrünem Trikot und lehnt sich nach links und rechts, als würde er ein Videospiel spielen. In der 95. Minute werden seine Gebete erhöht: Bellingham trifft per Fallrückzieher. Pickford hetzt zur englischen Bank, schneller als man den Kopf von links nach rechts drehen kann. Im Tor wieder angekommen, vor dem Wiederanstoß, läuft er auf Verteidiger Kyle Walker zu, prahlt mit beiden Armen mit seinem Bizeps. Danach wieder business as usual: Arme immer wieder kreisen, das Publikum anfeuern.

Dann: Verlängerung. Ab jetzt kann jede Aktion nicht nur spielentscheidend sein, sondern sie kann auch dafür sorgen, dass es schneller als gedacht wieder nach Hause geht. Glück für Pickfords Puls: Die Engländer sorgen in der Extra-Time schnell für klare Verhältnisse. 91. Minute, Kane köpfelt den Ball ins Tor. Auf der anderen Seite rennt wieder der Torwart wie von der Tarantel gestochen los zur Auswechselbank. Diesmal aber kein Bizepsjubel, sondern der Klassiker: die Säge.

Die Southgate-Elf will den knappen 2:1-Vorsprung über die Zeit zu bringen. Es beginnt ein Nervenspiel: Ein Slowake begeht ein Stürmerfoul, England holt einen wichtigen Freistoß in der eigenen Hälfte: Pickford lässt sich vorneüberfallen. Obwohl er meilenweit vom Geschehen entfernt ist, dirigiert der Torwart aus der eigenen Hälfte. Ob das überhaupt jemand mitbekommt? Wohl kaum. Pickford beginnt nun mit Zeitspiel, bei einem Freistoß hinkt er plötzlich, für einen Abstoß braucht er ewig. Torabstöße sind bei ihm ohnehin ein Thema: Er holt immer so viel Schwung, dass er von einem Bein auf das andere fällt.

Schreien und dirigieren, aber keiner hört zu

Irgendwie versucht er sich immer wieder daran, das Spiel zu beruhigen, doch seine Gesten werden jede Sekunde immer gewaltiger. Wenn der Ball nicht im Spiel ist, tigert er in der Mitte von Strafraum und Mittelkreis hin und her. Seine Aktionen werden immer spektakulärer: In der 111. Minute bekommen die Slowaken einen Freistoß direkt vor seinem Strafraum zugesprochen. Doch Pickford lässt den Schuss nicht einfach über seinem Tor hinwegziehen. Er klammert sich an die Latte und schiebt noch einen Klimmzug hinterher. Er pöbelt, skandiert, zeigt mit dem Finger auf irgendetwas, was nur er sieht.

Die Verlängerung neigt sich dem Ende entgegen: Manche Gesten lassen beinahe nicht mal mehr in Worte fassen. Immer wieder hebt er einen Arm, ohne irgendeinen Bezug zum Spiel. Pickford feuert seine Mitspieler an, sinkt in die Hocke. Was für einen Puls er dabeihaben muss? Er dirigiert und schreit, keiner der englischen Verteidiger dreht auch nur seinen Kopf um. Pickford nickt bei Fangesängen mit, er ist völlig im Tunnel. Manchmal sieht es aus, als würde er Selbstgespräche führen.

In den letzten Sekunden der Verlängerung dreht er nun völlig durch. Als der eingewechselte Ivan Toney aus aussichtsreicher Position über das slowakische Tor schießt, lässt Pickford sich auf den Bauch plumpsen und beginnt wie ein kleines Kind mit den Beinen zu strampeln. Den Kopfball, der am Ende des letzten slowakischen Angriffs steht, fängt er nicht nur, er lässt sich selbst dabei anderthalb Meter nach vorn fallen. Pickford steht danach nicht einfach auf, er erhebt sich. Den Ball mit dem einen Arm an den Körper geklemmt, klopft er sich mit dem anderen auf die Brust. Danach streckt er den freien Arm in die Luft. Er schüttelt den Zeigefinger und verdeutlicht mit einer Geste: mit mir nicht.

Dann ist es geschafft. England dreht tatsächlich das Spiel. 2:1 nach Verlängerung. Und Pickford? Langsam begibt er sich im Trubel zur englischen Bank. Er schickt Küsse ins Publikum, dann klatscht er noch mit ein paar Funktionären ab, er verteilt Umarmungen und verschwindet in den Kabinentrakt. Die Vorstellung ist vorbei. Die nächste Bühne steht in Düsseldorf. Dann im Viertelfinale gegen die Schweiz.

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