Bundespräsident Alexander Van der Bellen kündigte an, sich an diesem Montag mit FPÖ-Chef Herbert Kickl zu einem Gespräch über die künftige Regierungsbildung zu treffen. Nehammer habe ihm zuvor berichtet, sagte Van der Bellen, dass „die Stimmen innerhalb der ÖVP, die eine Zusammenarbeit mit Kickl ausschließen, leiser geworden sind“. Damit habe sich ein neuer Weg aufgetan. Er habe Kickl angerufen und ihn zu einem Gespräch geladen. Zuvor hatte Van der Bellen sich mit dem amtierenden Kanzler Nehammer getroffen, der ihm versichert habe, dass der Übergang in aller Ruhe stattfinden werde. Van der Bellen werde „im Laufe der kommenden Woche“ einen interimistischen Nachfolger ernennen.
Van der Bellen hat sich noch nicht festgelegt
Knapp 100 Tage nach der Nationalratswahl hatten sich zuvor die Ereignisse überschlagen. Weil mit Wahlsieger Kickl niemand eine Koalition eingehen wollte, hatte Van der Bellen im November 2024 den Auftrag zur Regierungsbildung an Nehammer vergeben. Klar war, dass Nehammer neue Partner braucht. Denn seine bisherige Koalition aus ÖVP und Grünen ist nicht nur tief zerstritten, sondern hat auch keine Mehrheit mehr. Nehammer verhandelte mit den Sozialdemokraten (SPÖ) und den liberalen Neos.
Doch nach zähen Verhandlungen ohne viel greifbare Ergebnisse sind am Freitag zunächst die Neos ausgestiegen. Am Samstag wurde klar, dass auch ohne Neos die Parteien der einstigen „großen“ Koalition, ÖVP und SPÖ, nicht zusammenfinden. Ohnehin wäre ihre Mehrheit nur äußerst knapp gewesen, 92 von 183 Abgeordneten im Nationalrat. Nehammer gestand sein Scheitern ein und kündigte am Samstagabend seinen Rückzug an.
Van der Bellen ließ offen, ob er Kickl den Regierungsbildungsauftrag erteilen werde, schloss das aber nicht aus. Dass er das zunächst nicht getan hatte, verteidigte der Bundespräsident abermals. Doch „seit gestern hat sich die Situation verändert“. Er werde auch in Zukunft „nach bestem Wissen und Gewissen“ darauf achten, dass die Grundpfeiler unserer Demokratie – Van der Bellen nannte den Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, freie, unabhängige Medien und die EU-Mitgliedschaft – weiter hochgehalten würden. Über das Scheitern der Verhandlungen zwischen ÖVP, SPÖ und NEOS zeigte sich der Bundespräsident überrascht. „Lange wurde der Eindruck vermittelt, als gäbe es eine gute Basis. Selbst nach dem Ausstieg der NEOS wurde mir vermittelt, dass eine Einigung möglich sei“. Für viele sei das Scheitern nun “eine große Enttäuschung“, und „wie Sie alle wissen, das war nicht mein Wunsch“.
Der SPÖ-Chef weist die Verantwortung von sich
Der SPÖ-Vorsitzende Andreas Babler kritisierte die ÖVP scharf dafür, dass sie die kaum erst begonnenen Gespräche über eine Zweierkoalition beendete. Wobei er Nehammer persönlich von der Kritik ausnahm: Man habe „gespürt, dass er gerne mit uns an Lösungen gearbeitet hätte“. Die Schuld am Scheitern trügen seien andere Kräfte in der ÖVP. „Jener Flügel hat sich durchgesetzt, der von Anfang an mit den Blauen geliebäugelt hat“, sagte Babler Samstagabend. Damit zielte er auf den Wirtschaftsflügel der ÖVP, angeführt von Harald Mahrer.
Babler versicherte im ORF, er sei kompromissbereit gewesen und habe nicht darauf bestanden, die von der SPÖ im Wahlkampf geforderte Vermögens- und Erbschaftssteuer einzuführen. Babler schloss für seine Person aus, wie Nehammer mit einem Rücktritt die Konsequenzen aus dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen zu ziehen. Auch im Fall von Neuwahlen wolle er wieder Spitzenkandidat sein. Allerdings kamen aus dem Burgenland, dessen Landeshauptmann Hans Peter Doskozil Bablers wichtigster innerparteilicher Kritiker ist, Forderungen nach einer personellen Neuaufstellung auch in der SPÖ.
Kickl äußerte sich nach Nehammers Rückzug mit Genugtuung und kritisierte den bisherigen Bundeskanzler, aber auch den ÖVP-Vorsitzenden und den Bundespräsidenten. „Mit Nehammer sind auch Babler und Van der Bellen gescheitert,“ äußerte Kickl schriftlich. „Sie waren die Architekten der Verlierer-Ampel und stehen nun vor den Trümmern ihrer Kickl-Verhinderungsstrategie. Statt Tempo bei der Regierungsbildung haben wir nun drei verlorene Monate, statt Stabilität haben wir Chaos.“
Ein FPÖ-erfahrener Vizekanzler der ÖVP?
Die – zu dem Zeitpunkt noch offene – Personalentscheidung der ÖVP bezeichnete Kickl als „Nagelprobe“ darüber, „ob die Volkspartei das Machtwort der Wähler von der Nationalratswahl zumindest jetzt ansatzweise verstanden hat“. Doch hat die ÖVP am Sonntag ausgerechnet der Wahlkampfmanager zum vorläufigen ÖVP-Chef benannt, der zudem zu den schärfsten Kickl-Kritikern gehört hatte.
Bei der ÖVP hängt die weitere personelle Aufstellung vor allem davon ab, ob jetzt doch eine Koalition mit der FPÖ zustandekommt. Im Wahlkampf und auch nach der Wahl hatte sie ein Bündnis mit den „Blauen“, nicht vollständig ausgeschlossen, wohl aber eine Regierung zusammen mit dem FPÖ- Vorsitzenden Herbert Kickl. Der aber will als Wahlsieger bislang nicht auf seinen Anspruch aufs Bundeskanzleramt verzichten. Als möglicher Vizekanzler in einer „blau-türkisen“ FPÖ-ÖVP-Regierung gilt der nach außen bislang wenig bekannte Wirtschaftskammerfunktionär Wolfgang Hattmannsdorfer. Er hat einige Jahre mit der FPÖ im Bundesland Oberösterreich regiert.
Mit den „blau-türkisen“ Koalitionsgesprächen dürften zwei andere, bislang bekanntere Namen bei der SPÖ aus dem Rennen sein; zumindest vorerst. Als mögliche ÖVP-Vorsitzende galten nämlich auch die frühere Europaministerin Karoline Edtstadler – und der frühere Parteichef und Kanzler Sebastian Kurz. Edtstadlers Verhältnis zu Kickl gilt als angespannt; als Kickl 2017 bis 2019 Innenminister war, war Edtstadler bei ihm als Staatssekretärin und galt als türkise „Aufpasserin“ im Haus. Später hat Kickl sie wegen der Corona-Maßnahmen besonders scharf in die Kritik genommen.
Die eingeschränkte Absage von Sebastian Kurz
Kurz, der 2021 wegen einer Inseratenaffäre und staatsanwaltlichen Ermittlungen als Bundeskanzler zurücktreten musste, ist seither geschäftlich tätig. Er hat zwar immer wieder erklärt, er habe mit der Politik abgeschlossen und sei zufriedener Unternehmer. Doch meldete er sich auch immer wieder öffentlich zu Wort. Und er hielt den Kern seines einstigen politischen Zirkels auch in seinem Firmenbüro zusammen. Am Wochenende wurde aus dem Umfeld von Sebastian Kurz kolportiert, dass er für eine Rückkehr nicht zur Verfügung stehe. Wobei die Absage nicht ohne Einschränkung ist. Erstens hieß es: „Vorerst“. Und zweitens heißt es: „nicht als Vizekanzler unter Herbert Kickl“.
Als Parteivorsitzender die ÖVP in Neuwahlen zu führen, wäre mit diesen Worten für Kurz keineswegs ausgeschlossen, falls nun auch die Koalitionsgespräche von ÖVP und FPÖ scheitern sollten. Allerdings sind immer noch staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen ihn im Gang.
Einige in der ÖVP, und auch in der Umgebung von Kurz, sehen das als weniger hinderlich an. Erstens können die sich noch lange hinziehen. Und zweitens zeigt ein Blick in die Vereinigten Staaten und das Beispiel Donald Trump, dass das einem Wahlsieg nicht entgegenstehen muss. Andere in der Volkspartei halten die Vorstellung, dass ihr Vorsitzender – womöglich gar als amtierender Kanzler – angeklagt würde, für viel zu riskant. Außerdem hätte Kurz in dieser Lage wohl Schwierigkeiten, einen Koalitionspartner zu finden.